Veröffentlichungen von Urmila Goel

Die sieben Delhi

erschienen in: Meine Welt, 20/2, 17-18. (Text als pdf)

„Delhi is an ancient city, mostly lost in the mists of unrecorded time, but it’s also an amalgam of several cities – traditionally seven but some believe there may have been as many as 15.“ (aus dem Reiseführer Lonely Planet)

Zu hause am Bengali Market

Seit 1975 führt mich jeder Indienbesuch auch zu meiner Cousine am Bengali Market, mitten in Neu Delhi. An diesen ersten Besuch kann ich mich nicht wirklich erinnern. Aber ich kenne Fotos, und Weihnachten 1984 ist mir noch in frischer Erinnerung. Seit dem hat sich sehr viel geändert und gleichzeitig fast nichts. Auch wenn ich nach Jahren wiederkomme ist mir die Vierzimmerwohnung vertraut. Ich betrete sie durch die gute Stube. Hier stehen zwei Sofas und ein Coachtisch, an dem Besucher empfangen werden. Dahinter liegt das Elternschlaf- und Wohnzimmer gefolgt vom Zimmer der Töchter. Das waren mal drei. Zwei sind mittlerweile verheiratet worden. Nur die Jüngste wohnt noch zu hause und arbeitet im Büro ihres Vaters mit. Das ist im vierten Zimmer untergebracht. Früher hat er hier Materialien gelagert. Für welche Nebenbeschäftigung weiss ich nicht. Nach seinem Ausscheiden aus dem Staatsdienst stehen hier jetzt ein paar Computer, mehrere Angestellte arbeiten sieben Tage die Woche von früh bis spät. Der nebenan liegende kleine Innenhof ist seit ein paar Jahren überdacht und nun steht hier ein Esstisch. Das ist die eigentlich wesentliche Veränderung, denn bei meinen früheren Besuchen wurde immer auf dem Boden vor dem Fernseher eine Matte ausgerollt und dort gegessen.

Von Red Fort bis Qutab Minar

Den Connaught Place (CP) kenne ich gut. Er ist nur einen Katzensprung vom Bengali Market entfernt und so habe ich ihn schon ausführlich erkundet. Ich abe dort mit Strassenhändlerinnen gehandelt, im Central Cottage Emporium eingekauft und bei Nirulas eine Pizza gegessen. Hier bin ich zum erstenmal richtig reingelegt worden und habe meinen erfolgreichsten Handel abgeschlossen. Alt-Delhi habe ich auch früh ein bisschen kennengelernt, denn am Cloth Market hat eine Tante gewohnt. Wenn auch – wie üblich bei Verwandtenbesuchen - die meiste Zeit mit Teetrinken verbracht wurde, habe ich doch auf dem Weg hin und zurück etwas vom Gewusel der engen Gassen mitbekommen. Und ein bisschen Sightseeing gab es auch mit meiner Familie – wir fuhren zum Qutab Minar und dem diziplinierten, sauberen Lotus Tempel. Mit meiner deutschen Cousine an der Seite und dem Lonely Planet in der Hand bin ich dann 1995 ins touristische Delhi aufgebrochen. Nichts wollten wir verpassen, keine der sieben Stadtgründungen, keines der unzähligen Mausoleen und auch nicht die Museen. Zwischen Red Fort und Qutab Minar waren wir an jeder Sehenswürdigkeit, haben mit Scooter- und Rikschafahrern harte Verhandlungen geführt, hatten immer eine Flasche Bisleri und einen, nein zwei Fotoapparate dabei. Wir kannten alle Ecken Delhis.

Regionale Konferenz im Imperial

Dachte ich. Bis ich 2002 wiederkam. Diesmal kam ich dienstlich zu einer regionalen Konferenz, und wohnte im Hotel. Der Kollege brachte mich mitten in der Nacht zum Imperial. Das fand ich wahrlich imperial und wollte am liebsten flüchten, nur ein paar Strassen weiter zum Bengali Market, zu meinem Delhi. Der Janpath vor dem Hotel war aber der gleiche, den ich von meinen früheren Erkundungen des CP kannte. So beruhigt ging ich zum Frühstücksbuffet, suchte nach dem Vertrauten dort, griff zu Paranthas und Alu und verlangte vom Kellner indischen Tee. Als ich dann auch noch mit den Fingern ass, hatte ich mich endgültig als Neuling geoutet. Inder und Ausländer gleichermassen liessen sich Omeletts braten, nahmen sich frisches Obst und tranken Kaffee oder schwarzen Tee mit Milch. Das konnten sie im Hotel auch viel besser zubereiten als meine Auswahl. Für die Konferenz boten sie uns angenehme Atmosphäre, wir konnten uns ganz auf die Inhalte konzentrieren und in den Pausen auf der Wiese ausspannen. In den nächsten Tagen gewöhnte ich mich langsam an diese Welt in der Englisch, Besteck und Toilettenpapier die Regel sind. Meine Gesprächspartner – egal ob Inder oder Ausländer – bewegten sich so vertraut in ihr, dass mir auch gar nichts anderes übrig blieb.

Mit der Rolltreppe in die Zukunft

Auch auf einer Dienstreise bleibt ein bisschen Freizeit. Diese wollte ich mit einer indischen Freundin verbringen und so fuhr sie mich im Wagen ihres Mannes zu Ansals, einer Einkaufspassage par excellence. Vom riesigen Parkplatz kamen wir zuerst in den großzügig gestalteten und zum Verweilen einladenden Innenhof. Drinnen hatte ich das Gefühl in einem deutschen Kaufhaus zu sein - Rolltreppen und Aufzüge brachten uns von der Herren- zur Damen- zur Kinderabteilung, sauber und großzügig eingerichtet waren die Räume, die Klimaanlage verschaffte eine angenehme Temperatur – nur die Kleidung war nicht deutsch. Hier hingen neben Hosen und T-Shirts Salwar Kamiz und Saris zur Auswahl. Nebenan im Musikladen gab es CDs und DVDs aus dem Westen und Bollywood. Etwas so altmodisches wie VHS-Videos war allerdings nicht zu bekommen. So gingen wir den in die Lieblings-Bar meiner Freundin. Die Karte mit ihren Cocktails und Preisen stand denen im Westen in nichts nach. Nur eine Apfelschorle gab es nicht. Abends entschieden wir uns dann gegen das Kino, liehen uns lieber einen Film in der Videothek aus. So kam ich erst bei einer späteren Reise in den Genuss eines Besuchs im Multiplexkino. Neben hervorragender Technik, gab es bequeme Sitze und Popcorn. Anders als in Deutschland wurden allerdings unsere Taschen durchsucht - Batterien und Feuerzeuge mussten draussen bleiben.

Teetrinken mit feministischen Marxisten

Den Film ausgesucht hatte eine andere Freundin. So waren wir nicht im seichten „Hollywood Bollywood“ sondern im sozialkritischen „Mr. & Mrs. Iyer“ gelandet. Das Studium an der Jawaharlal Nehru Universität verpflichtet schliesslich. Eigentlich muss man auch gar nicht von diesem riesigen Campus herunter. Hier sind nicht nur alle Fakultäten und Hörsäle sondern auch Wohnheime, Mensen und Läden für den studentischen Bedarf. Ausserdem kann man durch die Wildniss spazieren, Höhlen erkunden und auf dem Lover’s Rock sitzen. Und das alles hochsubventioniert und intellektuell anregend. In einem der kleinen Wohnheimzimmer sitzen die beiden Bewohner und wir drei Besucherinnen auf den Betten. An den Wänden hängen Zitate von Sartre und Nietzsche, mit einem Tauchsieder wieder Tee gekocht. Es wird geraucht und diskutiert. Alle sind irgendwie organisiert – im gender collective oder beim Strassentheater, sie eilen von Sitzung zu Sitzung, organisieren Filmfestivals und Vorträge, verbreiten ihre politische Botschaft in Delhi und auf dem Land, zwischendurch geht es in Vorlesungen und Seminare. Zeit ist knapp - für eine Diskussion beim Tee reicht sie aber immer. Die JNU ist eine Welt für sich - auch die Männer sind Feministen und alle sowieso Marxisten.

Kebabs und Dargahs

Die Studierenden der JNU, zumindest die die ich treffe, wenden sich natürlich gegen jegliche Diskriminierung. Und das leben sie auch. Sie halten sich nicht an die Regeln der Mehrheitsgesellschaft, suchen gezielt die Nischen auf. So bringen sie mich auch nach Nizzamuddin, dem rein muslimischen Viertel. Der Kebabverkäufer begrüßt herzlich seine Stammgäste. Das Radio überträgt gerade ein Cricketspiel zwischen Indien und Pakistan. Die Kebabs sind sehr lecker, besser als die in Islamabad. Ich will noch mehr von Nizzamuddin sehen und so gehen wir durch die engen, verwinkelten Gassen. Immer mehr überkommt mich ein Gefühl der Fremdheit. Mir ist nicht so klar, ob ich hier wirklich am rechten Platz bin - als hochgewachsene, westliche Frau. Wir gehen in ein Dargah, verhüllen uns mit unseren Schals, besichtigen auch noch ein paar andere. Immer weiter kommen wir von der Hauptstrasse und dem Kebabladen weg, immer enger und verwinkelter werden die Gassen. So recht wissen wir nicht mehr, wo wir sind. Als wir endlich wieder eine breitere Strasse erreichen, sind wir doch erleichtert und nehmen einen Scooter zurück zur JNU. Schon bald werden die Kebabs oder ein Konzert wieder locken.

Queer Delhi

Im Auto herrscht ausgelassene Stimmung. Die vier kommen gerade von einer Probe. Bei einem Festival werden sie ihr selbstgeschriebenes Stück aufführen. Noch ist es nicht fertig geschrieben, sie feilen noch dran, sind aber sehr zufrieden. Es geht um ihr Coming out und über ihre Beziehungen. Wir sind unterwegs in ein Cafe im Süden, wo weitere Freunde auf uns warten. Eine ist besonders unruhig, denn sie wartet sehnsüchtig darauf, ihre Freundin wiederzusehen. Aber noch sind wir nicht da, daher erzählen die Jungs von ihrem Treffen mit einem ausländischen Filmteam. Das will einen Film über Homosexuelle in Indien machen. Eigentlich eine klasse Idee finden die Freunde. Allerdings nicht wenn das Ziel ist, das traurige Leben der Schwulen und Lesben zu porträtieren. Sie haben so gar nicht das Gefühl, ein trauriges Leben zu führen. Auch wenn wir im Cafe erst einmal mit bösen Blicken empfangen werden. Wir sind fast eine Stunde zu spät und die sehnsüchtig erwartete Freundin ist sauer. Aber schon nach kurzer Zeit haben sich die beiden wieder versöhnt. Mittlerweile sind wir acht. Laut wird erzählt und gelacht – über das Theaterstück, über das Filmteam, über die wöchentliche Schwulendisko, über süsse Dozenten und schwule Kommilitonen. Auf dem schwarzen T-Shirt des einen Schauspielers steht in roten Buchstaben „Nobody knows I am a Lesbian“.

 

© Urmila Goel, www.urmila.de 2003