Veröffentlichungen von Urmila Goel
erschienen in: Südasien 4/03, 66-67. (Text als pdf)
Frühjahr 2002: Nisa (alle Namen geändert) sitzt am Esstisch ihrer Eltern in Delhi und trinkt abgekochtes Wasser. Sie geht noch einmal die letzte Lektion durch, denn gleich muss sie zum Deutschkurs - nicht im Max-Müller-Bhavan, wie das Goethe-Institut in Indien heisst, denn das ist zu teuer. Sie geht zu einem anderen Anbieter. Ihre Lehrerin, eine Inderin, korrigiert ihre Aussprache. Es heisst nicht Ich sondern Isch.
Ein Jahr früher arbeitete Nisa nach abgeschlossenem BWL-Studium in einer kleinen Firma in Delhi. An einen Deutschkurs dachte sie nicht. Das zentrale Thema in ihrem und vor allem im Leben ihrer Eltern war Shadhi, ihre Hochzeit. Die zweite von drei Töchtern war nun im heiratsfähigen Alter und die Eltern sahen es als ihre Pflicht, einen passenden Ehemann zu finden. Arranged marriage ist in der Familie von Nisa - genauso wie eine gute Ausbildung für ihre Töchter - ein allgemein akzeptierter Standard. Von den 33 Cousinen und Cousins ihrer Mutter hatte nur einer eine Liebesheirat und diese war immerhin suitable, die Braut kam aus der gleichen Kaste wie er. Auch Nisas ältere Schwester hatte sich in die Tradition gefügt und lebt heute mit ihrem Ehemann und zwei Söhnen zufrieden in Singapur.
Nisas Vater, ein ehemaliger Ministeriumsmitarbeiter und nun selbständiger Unternehmer, will das Beste für seine Töchter. Er misstraut der unüberlegten Liebe, vertraut auf die Tradition und die Überprüfung klarer Kriterien. Die dürfen die Töchter mit aufstellen. Wenn ein passender Mann gefunden wurde, entscheiden sie, ob es auch der richtige für sie ist.
Anfang 2001 ist es soweit für Nisa. Sanjay ist nicht nur suitable, sie kann es sich auch gut vorstellen, ihn zu heiraten. Im Frühjahr ist die Verlobung und dann schon wenige Monate später die Hochzeit.
Sanjay ist wie Nisa Betriebswirt und kommt aus einer Mittelklassefamilie. Er hatte ihr schon in der Verlobungszeit gesagt, dass er ins Ausland gehen will. Kurz nach der Hochzeit teilt er ihr mit, dass er sich für eine Stelle in Deutschland entschieden hat. Er will den Vertrieb für eine amerikanische IT-Firma in Bremen übernehmen und es geht sofort los mit der Arbeit. Also sitzt Nisa schon drei Wochen nach ihrer Hochzeit mit einem Touristenvisum im Flugzeug nach Deutschland.
Sie ist froh, ins Ausland zu gehen. Und Deutschland ist ganz praktisch. Sie kann zwar die Sprache nicht und weiss auch sonst wenig über das Land, aber dort lebt ein Großonkel von ihr. Er bürgt für sie und so bekommt sie problemlos das Visum. Er lebt zwar weit weg von Bremen, kümmert sich aber so weit wie möglich um Nisa und ihren Mann. Er verschafft ihnen auch Kontakt zu einer befreundeten Inderin. Eine andere indische Familie lernen sie durch Sanjay bald kennen.
Ein grosses Abenteuer beginnt für Nisa. Sie lebt in einem fremden Land mit einem noch fremden Mann. Der geht morgens zur Arbeit und kommt abends wieder. Dazwischen geht sie mit einem Wörterbuch in der Hand einkaufen, kennt sich bald bestens mit Aldi und Co aus. Bald lernt sie es auch im Hellen zu Abend zu essen, denn es wird einfach nicht dunkel im Juni in Bremen. Das Touristenvisum ist allerdings ein Problem. Sie muss zurück nach Indien, um eine Aufenthaltsgenehmigung wie sie ihr Mann schon hat zu beantragen. Einen Monat bleibt sie bei ihren Eltern in vertrauter Umgebung und kehrt dann in den norddeutschen Herbst zurück.
Der Winter ist kalt, zu kalt für Nisa. Ausserdem ist sie schwanger. Sanjay und Nisa überlegen, ob seine oder ihre Mutter kommen kann. Ganz ohne familiären Beistand will Nisa das Kind nicht zur Welt bringen. Es ist aber nicht wirklich realistisch, die Mütter zu holen. Und auch sonst spricht nichts für eine Geburt in Deutschland die deutsche Staatsbürgerschaft würde ihr Sohn sowieso nicht bekommen. So sitzt Nisa im Januar 2002 schon wieder im Flugzeug Richtung Delhi, in die vertraute Welt.
Sie geht zurück zu ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester. Die Zeit in Delhi will sie nutzen, um endlich Deutsch zu lernen. Vorsichtshalber trinkt sie inzwischen abgekochtes Wasser, sie will nichts riskieren. Jeden Abend sitzt sie am Computer mit Kopfhörer und Mikrophon, um über das Internet mit Sanjay zu telefonieren. Fünf Monate wird sie in Indien bleiben. Ihr Mann kann nur nach der Geburt des Stammhalters Tarun kurz kommen. Er muss in Deutschland arbeiten.
Sobald wie möglich - das heisst sobald die Airlines den kleinen Tarun mitnehmen - kehrt Nisa nach Deutschland zurück. Ihr Deutsch ist immer noch nicht besonders gut, aber sie braucht es auch kaum. Ihre kleine Familie ist ihr Leben. Tagsüber kümmert sie sich um Tarun, erledigt den Haushalt, geht einkaufen. Dann holt sie Sanjay von der Arbeit ab und kocht für ihn. Mittlerweile kennen sie noch weitere junge indische Familien. Sie verbringen viel Zeit miteinander. Sie kochen zusammen, spielen Karten, schauen sich indische Filme an und unternehmen gemeinsame Ausflüge. Mit Deutschen haben sie kaum Kontakt auch nicht mit der Familie ihres Großonkels. Die lebt zu weit weg, ist zu sehr in den eigenen Alltag eingebunden, um Nisa zu besuchen und ihr tatkräftig zur Seite stehen zu können. Den ganzen Tag alleine mit dem kleinen Tarun, fühlt sie sich schon mal einsam und überfordert. Sie kennt keine anderen Mütter, ist völlig auf sich selber gestellt mit der Erziehung ihres Sohns. Sie muss alleine einschätzen, ob seine Entwicklungsschritte normal sind, wie sie ihn richtig fördern kann. In Indien hätte sie ihre Familie und Nachbarn um sie rum, die ihr mit Rat und Tat zur Seite stehen würden.
Ende 2002 macht die Firma ihres Mannes Pleite. Sie zahlen ihm sein Gehalt nicht mehr. Sanjay sucht erfolglos nach einer anderen Stelle in Deutschland. Er überlegt, sich selbständig zu machen. Aber diese Idee lässt sich nicht umsetzen. Nisas Familie lebt nun vom Arbeitslosengeld. Das war nicht ihr Ziel, als sie nach Deutschland kamen. Da sich im Frühjahr 2003 immer noch keine Arbeitsperspektive für Sanjay abzeichnet, kehrt Nisa mit Tarun wieder zu ihren Eltern zurück. Ein paar Monate der erfolglosen Suche später folgt auch ihr Mann.
Nisa ist nicht froh zurückzukommen - schon gar nicht unter diesen Umständen. Sie fürchtet die Fragen von Freunden und Verwandten. Und sie fürchtet die Arbeitslosigkeit. Denn noch hat Sanjay auch in Indien keine Stelle gefunden. So hatte sie sich ihre Zukunft nicht ausgemalt.
Aber es ist nicht nur der wirtschaftliche Misserfolg, der ihr die Rückkehr vergällt. Sie vermisst auch Deutschland. Alles in allem war sie zwar nur ein gutes Jahr in Bremen, aber dabei hat sie sich doch an so einiges gewöhnt - insbesondere an die gute Infrastruktur. Den Kinderwagen kann sie in Delhi nicht brauchen und der öffentliche Nahverkehr ist absolut unzuverlässig. Es gibt keinen Bananensaft. Bremen hat ihr gefallen. Besser als London, wo sie einige Tage Urlaub mit Sanjay verbracht hatte.
Herbst 2003: Nisa sitzt noch am Esstisch ihrer Eltern in Delhi. Sie trinkt das Wasser aus der Leitung. Einen Deutschkurs muss sie nicht mehr machen. Sie plant jetzt ihren Umzug nach Bombay. Denn seit Juli hat Sanjay wieder eine Stelle wieder im Vertrieb, aber diesmal in Bombay. Er ist schon hingezogen, Nisa wird ihm folgen. Viel sehen wird sie ihn dort allerdings nicht. Sanjay ist für den Vertrieb in Afrika und Osteuropa zuständig, und muss viel reisen. Bombay soll nur eine vorübergehende Station sein. Die beiden wollen wieder ins Ausland ziehen. Wohin ist noch nicht klar.
Gerade ist Sanjay im südlichen Afrika unterwegs. Nisa sucht die Liste mit Hotels heraus, denn sie muss ihn anrufen, um etwas für den Umzug zu regeln. Täglich telefonieren sie schon lange nicht mehr. Nisa ist voll und ganz mit Tarun beschäftigt.
Dezember 2003: Nisa hat eine Stelle bei einer IT-Firma in Bombay gefunden. Tarun will sie einem Babysitter oder einer Krippe anvertrauen.