Veröffentlichungen von Urmila Goel

Deutschland – Eine Winterreise
Junge SüdasiatInnen erleben Deutsches

erschienen in: Südasien 23/1, 57-58. (Text als pdf)

Dick vermummt und vor Kälte bibernd gehen zwölf junge Südasiatinnen und Südasiaten über einen Friedhof am Rande von Marzahn. Sie sollen hier etwas über die Geschichte des Ostberliner Stadtteils erfahren – von dem Zigeunerlager der Nazis genauso wie von der Erinnerung an die Opfer der alliierten Bombenangriffe. Geführt werden sie von der westdeutschen Heike, dem Marzahner Ricardo und der schwarzen Deutschen Desiree. Die drei steuern eine ostdeutsche Facette zu einem zehntägigen Informationsprogramm der Gruppe über Migration und Vielfalt in Deutschland bei.

Angesichts der frierenden Südasiatinnen und Südasiaten bleibt es bei diesem einen Spaziergang in Marzahn. Eigentlich waren weitere geplant, um die verschiedenen Seiten Stadtteils zu zeigen. Über die Kälte hatten sich die Organisatorinnen im Vorfeld keine Gedanken gemacht, wohl aber darüber ob die Einblicke in das weisse Marzahn friedlich verlaufen würden. Dieser Test entfällt nun. Sicher fahren sie im Bus zu den Badeseen, durch das scheinbar idyllische Dorf Marzahn und entlang den Plattenbauten an der Allee der Kosmonauten. Heike und Ricardo geben über das Bordmikrophon Hintergrundinformationen zur Geschichte und Sozialstruktur, zu den Problemen und der Arbeit gegen Rechtsextremismus in Marzahn. Desiree steuert ihre persönlichen Erfahrungen über alltäglichen Rassismus und No-Go-Areas bei.

Die schwarze Deutsche Desiree fühlt sich wohl in dieser Gruppe aus Südasien. Sie fällt nicht auf, sieht aus wie die anderen. Das Gefühl hat sie nicht häufig. Sonst ist sie die einzige Farbige weit und breit. Sie öffnet sich immer mehr, erzählt schliesslich sehr eindringlich von den vier rassistischen Überfällen, die sie überlebt hat. Die Südasiatinnen und Südasiaten sind erschüttert und gleichzeitig von Desiree beeindruckt.

Bislang hatten sie auf ihrer Reise durch Deutschland vor allem Gesprächspartner getroffen, die Erfolgsgeschichten der Integration erzählten. Der hinduistische Tempel in Hamm wurde gegen den Widerstand eines großen Teils der Bevölkerung durchgesetzt. Die türkische Gemeinschaft in Duisburg hat sich etabliert. In Bonn ist der Vorsitzende des Ausländerbeirats von der Freundlichkeit der Stadt überzeugt. Von der Gruppe hört er, dass die jungen Südasiatinnen und Südasiaten ganz andere Erfahrungen in seiner Stadt gemacht hatten. An ihrem ersten Abend wollten einige in eine Disko gehen, wurden da aber mit der Begründung „No foreigners“ abgewiesen. Das sei aber nicht ausländerfeindich gewesen, hiess es nachher offiziell von der Disko. Der Vorfall müsse sich anders abgespielt haben, da so etwas gar nicht geschehen sein könne.

Im Vergleich zu Desirees Erfahrungen war dieses Erlebnis in Bonn eine Kleinigkeit. Während die Diskobetreiber noch argumentieren konnten, dass Sprachschwierigkeiten oder fehlende Ausweise der Grund für die Abweisung gewesen sein, hatte Desiree sich nichts anderes zu Schulde kommen lassen, als als Schwarze durch Marzahn zu gehen. Ihre Geschichte zeigt deutlich, dass die Gewalt von den Tätern kommt und nicht von dem Opfer – und das nicht nur in Deutschland.

In Deutschland spielt dabei die Hautfarbe eine besondere Bedeutung. Das lernt die Gruppe in Marzahn. Den Tag vorher hatten sich noch darüber beklagt, dass der indischstämmige Bürgermeister von Altlandsberg Ravi Gujjula so viel über Hautfarbe gesprochen hatte. Das war für sie ein Zeichen, dass er nicht integriert sei. In Marzahn verstehen sie nun, was es heisst als einzige, als einziger Farbiger durch eine rein weisse Umgebung zu gehen. Kyla, deren Mutter weisse Amerikanerin ist, merkt auf einmal, dass sie selbst ziemlich weiss ist. Sie fällt als einzige aus der Gruppe nicht auf in Deutschland. Dabei hatte sie sich bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht weiss sonder pakistanisch gesehen.

Die Reise ist auch sonst iritierend für sie. In diesem seltsamen Deutschland fühlt sie sich auf einmal amerikanisch. Das Heimatland ihrer Mutter wird zum Bezugspunkt. In der Auseinandersetzung mit Deutschland und den anderen Südasiatinnen und Südasiaten verlieren vorher sicher geglaubte Identitäten immer mehr an Sinn. Und das gilt nicht nur für Kyla. Je länger die Gruppe zusammen ist, desto weniger spielt Nationalität eine Rolle, desto wichtiger werden Sympathie und Gemeinsamkeiten. Nicht die Inderinnen sitzen zusammen, sondern die jungen Feministinnen aus Indien und Pakistan, die indischen und sri lankischen Wissenschaftlerinnen, die Kochbegeisterten aus Bangladesh und Pakistan.

Der Besuch in Marzahn ist aber nicht nur bedrückend und iritierend. Zum Abschluss führt Ricardo die Gruppe in einen Jugendclub. Bei Tee, Kaffee und Kakao wärmen sie sich auf. Die theatererfahrene Ponni belebt die Sinne mit einer kurzen Bewegungsübung, die auch Desiree mitreisst, während die weissen Deutschen sich dezent zurückhalten. Die Leiterin des Jugendclubs informiert die Gruppe über die Einrichtung und vor allem über die Probleme der immer weniger werdenden staatlichen Zuschüsse. So ganz verstehen die jungen Südasiatinnen und Südasiaten das Problem nicht. Sie sind ganz überrascht, dass eine solche Einrichtung staatlich finanziert wird, so etwas gibt es in ihren Ländern nicht. Im Rahmen ihrer Deutschlandreise haben sie sich schon häufiger darüber gewundert, wie sehr dem Staat immer wieder die Hauptrolle zugewiesen wird. So fragen sie nun nach der Möglichkeit von privaten Spenden, was wiederum die Deutschen erst nicht so ganz verstehen, dann aber merken, dass sie von ganz unterschiedlichen Ausgangspunkten ausgehen. Unabhängig von der Finanzierung sind die jungen Gäste vom Jugendclub beeindruckt. Sei fangen gleich an, gemeinsam Pläne zu entwerfen, um in ihren Ländern solche Clubs einzurichten.

Die zwei Marzahner Mädchen, die den Tee kochen, den Kakao rühren und den Kaffee aufgiessen, halten sich die ganze Zeit im Hintergrund. Die Überzahl der zwölf selbstbewussten Fremden, die mit ihren Begleiterinnen munter in Englisch reden, ist wohl zu einschüchternd. Die allgemeinen Informationen, die sie über die Gruppe bekommen - so zum Beispiel, dass es sich keineswegs um eine einheitliche Gruppe sondern um Menschen aus ganz unterschiedlichen und zum Teil verfeindeten Staaten handele - nehmen sie ohne sichtbare Regung auf. Als dann aber Mohan beginnt von seiner Kindheit im Himalaya zu berichten, lauschen sie aufmerksam der Simultan-Dolmetschung über Kopfhörer. Sie sagen zwar immer noch nichts, aber sobald die Gruppe geht, erzählen sie alles brühwarm ihren Freunden im Nebenraum und sind sichtbar stolz, etwas besonderes erlebt zu haben.

So kommt es im allgemein als Hochburg der Fremdenfeindlichkeit angesehenen Marzahn zu einem Austausch zwischen deutschen und südasiatischen Jugendlichen. Zwar nicht zu einem direkten, offenen, aber doch zu einem von dem beide Seiten profitieren. Ganz anders sieht der nächsten Tag in Kreuzberg aus. Hier soll die Gruppe das Kontrastprogramm zum weissen Marzahn kennenlernen. Tatsächlich auch gehen sie durch den multikulturellen Stadtteil, geniessen türkisches Essen und sehen gelebte Vielfalt. Geführt werden sie aber von einem besserwissenden amerikanischen Deutschen, der nur seine Wahrheit gelten lässt und seine Zuhörerinnen und Zuhörer aus Südasien gar nicht erreicht. Schon vorher hatten sie Einseitigkeit erlebt. Im Haus der Geschichte hatten sie nur Erfolge der Bundesrepublik gesehen und gelernt, dass es in der DDR nichts Gutes gab. Auch die Geschichte des Reichstags war durchweg positiv, der Reichstagsbrand tauchte nur am Rande auf. Da war der Bürgermeister Gujjula in seiner eigenen Einseitigkeit schon eine angenehme Abwechslung gewesen, da er den ostdeutschen Standpunkt einführte. Die Führung durch Kreuzberg ist nun der Höhepunkt der Einseitigkeit. Von ihr nehmen sie nur mit, dass es - wie es Kyla formuliert - „fundamentalistische Linke“ auch in Deutschland gibt.

Auf ihrer Winterreise lernen die zwölf Südasiatinnen und Südasiaten ausserdem, dass es seltsame Häuser und seltsames Essen in Deutschland gibt, dass man mit Englisch nicht durchkommt, weil alles in Deutsch ausgeschildert ist, dass auch Abgeordnete abend beim Bier ganz offen erzählen können, dass bei Diskussionen Redelisten geführt werden, dass es ganz offen ein schwules Museum in Berlin gibt, dass man pünktlich sein und an roten Ampeln warten muss. Vieles ist anders als in ihren Ländern, einiges angenehmer, anderes weniger. Einiges ist aber auch genauso wie zu hause. All dies und die vielen Gespräche gerade mit jungen Deutschen geben Denkanstösse. Am wichtigsten ist aber das gemeinsame Reisen als Gruppe von Südasiatinnen und Südasiaten. So bekommen sie alle einen ganz neuen Bezug zu ihren Nationen, zu Südasien und dem Zusammenleben dort.

Die Winterreise hat aber auch ganz konkrete Ergebnisse. Die Tamilin Uma nimmt von jeglichen Auswanderungsideen Abstand. Warum sollte sie ins kalte Deutschland oder gar das noch kältere Kanada gehen, wenn es in Sri Lanka immer angenehm warm ist?

Weitere Informationen zu der Gruppe sind unter www.fes.de/suedasien zu finden.

 

© Urmila Goel, www.urmila.de 2003