Forschungsprojekt: Die virtuelle zweite Generation
von Urmila Goel
Das WorldWideWeb suggeriert allein schon durch seinen Namen, die ganze Welt mit einander zu verbinden, räumliche Distanzen aufzuheben und so einen neuen entterritorialisierten Raum zu schaffen. In der Gegenüberstellung von real und virtuell wird unterstellt, dass nur im physikalischen Raum Realität vorherrscht, während das Internet eine imaginierte, virtuelle Welt hervorruft. Das Virtuelle erscheint so völlig vom Raum im klassischen Verständnis eines geographisch verorteten, abgeschlossen Gebietes abgetrennt. Das Medium kann geographische Distanz problemlos überbrücken, bringt Menschen über weite Entfernungen miteinander in Kontakt, die ohne das Internet möglicherweise nichts voneinander wüssten. Es schafft so einen neuen, virtuellen Raum, der keine Grenzen zu kennen scheint.
So ruft mein Forschungsprojekt über die Internetplattform www.theinder.net häufig die Assoziation von transnationalen Netzwerken, von Verbindungen zwischen dem Wohnort Deutschland und dem Herkunftsland Indien hervor. Die Redakteure selber befördern dieses Bild in dem sie ihr Portal trilingual in Deutsch, Englisch und Hindi anbieten. Wie ich in Interviews immer wieder merke, entsteht allein durch dieses Angebot der Eindruck, dass die Seite international vernetzt ist und von Englisch- und Hindi-sprachigen NutzerInnen besucht wird. Dieser Schein des weltweiten Netzes bleibt aber Schein. Schon ein Blick auf die englische und Hindi-Seite zeigen, dass dort kaum Inhalte zu finden sind. Die Beiträge in den Foren zeigen, dass fast ausschließlich Deutsch-MuttersprachlerInnen posten. Von der Redaktion habe ich erfahren, dass es kaum Zugriffe auf die Hindiseite gibt. theinder.net scheint klar im deutschsprachigen, physikalischen Raum verankert zu sein. Die wenigen sichtbaren Nutzer, die nicht in diesem Gebiet leben, haben dies zumindest vorher getan. Deutsch ist nach wie vor ihre Hauptsprache. Die wenigen transnationalen Verbindungen, die durch theinder.net ermöglicht werden, sind keine neuen Verbindungen zwischen vorher nicht verbunden geographischen Räumen. Es entsteht allerdings die Möglichkeit, die durch gerade erfolgte Migration aufgehobene direkte räumliche Nähe virtuell zu überbrücken.
theinder.net besteht aus einer Vielzahl von mit einander verlinkten Dateien, man kann lange durch sie surfen, ohne dass ein Ende sichtbar wird. Das Internetportal bietet auch eine große Zahl von externen Links, so dass man immer weiter surfen kann. Trotzdem ist theinder.net nicht grenzenlos. Am Design der Seiten ist schnell klar, wann man theinder.net verlässt. Es gibt ein Außen und ein Innen. Das Innen ist wieder weiter unterteilt, es gibt mehrere abgegrenzte Bereiche. So kommt man kaum direkt vom Forum in den redaktionellen Bereich und umgekehrt. Beide sehen anders aus, die NutzerIn weiß immer in welchem Bereich sie ist. Viele NutzerInnen kennen allerdings gar nicht alle Bereiche, ihre ersten Besuche haben sie auf bestimmte Wege geleitet, die sie kaum noch verlassen. So ist ein aktiver Poster des Forums im Interview, zum Beispiel, ganz überrascht als ich im erzähle, dass es einen Chat gibt. Das hatte er bisher nicht wahrgenommen.
Es scheint also nicht der Fall, dass im Virtuellen der Begriff Raum keine Relevanz mehr hat. Die Bezeichnung virtueller Raum macht begrifflich Sinn. Das Internet schafft neue Räume jenseits der physikalischen. Schroer (2003, 61) zitiert hierzu Paetau:
„... Der soziale Raum wäre dann nicht mehr durch geographische Aspekte (Anordnungsmuster der Standorte von Menschen und Artefakten) bestimmt, sondern primär als ein Koordinatensystem von sozialen Handlungen bzw. sozialen Positionen (Bourdieu) oder als ein Netzwerk von Kommunikation (Luhmann), das sich von seinen geographischen Voraussetzungen weitgehend befreit hat.“
Diese neuen, virtuellen Räume sind nicht geographisch lokalisierbar. Durch sie kann man geographische Distanzen überwinden. Gleichzeitig sind viele, wenn auch nicht alle, in spezifischen geographischen Räumen verankert. Alle nicht-Englischsprachigen Webseiten sind verbunden mit den physikalischen Territorien, in denen diese Sprache gesprochen bzw. verstanden wird. So ist theinder.net durch die dominante Sprache Deutsch klar im deutschsprachigen Raum verortet. Dies spiegelt sich in den NutzerInnen wieder, die wie bereits ausgeführt, fast alle auch dort wohnen. Die Verortung zeigt sich aber nicht nur in der Sprache sondern auch in den Themen und der Art wie mit ihnen umgegangen wird. So zeigt sich auf theinder.net immer wieder, dass es vor allem eine deutsche Seite ist. Es gibt auch Nutzerinnen aus Österreich und der Schweizer, aber der Bezugsrahmen ist im wesentlichen Deutschland. Dies sieht man an den behandelten Themen, an den angekündigten Veranstaltungen in Deutschland und der gelegentlichen Thematisierung der „Andersartigkeit“ derer aus Österreich und der Schweiz.
Der virtuelle Raum theinder.net ist aber nicht nur klar verbunden mit einem geographisch abgegrenzten physikalischen Raum, er bildet auch tatsächlich einen Raum, der wiederum unterteilt ist, im Virtuellen. Er hat zwar keine geographischen Grenzen, aber er ist wie oben bereits argumentiert abgegrenzt. Es gibt ein Außen und ein Innen. Diese Grenzen sind nicht nur durch unterschiedliche Designs gekennzeichnet, theinder.net ist auch durch eine bestimmte Sprache (Deutsch, dass von jungen Menschen im Internet geschrieben wird, mit bestimmten „indischen“ Einflüssen) und eigene Regeln geprägt. So gibt es eine Redaktion, die sich selber Regeln gesetzt hat und diesen folgend den redaktionellen Teil von theinder.net gestaltet. NutzerInnen müssen sich diesen Regeln unterwerfen, wenn sie das Angebot nutzen wollen. Im interaktiven Bereich, das heißt in den Foren und dem Chat, ist die Redaktion fast nicht präsent. Sie haben hierfür zwar Regeln aufgestellt, überprüfen ihre Einhaltung aber nicht regelmäßig. Gelegentlich löschen sie Beiträge oder weisen auf Regelübertretung hin. Das Gästebuch haben sie in Folge von andauernder Regelübertretung und der eigenen Überforderung zu moderieren geschlossen. Trotzdem sind die interaktiven Räume nicht regelfrei. Die NutzerInnen entwickeln und kontrollieren selber Regeln. Dies ist besonders deutlich in den Foren, in denen sich die regelmäßigen, langjährigen NutzerInnen zum Teil implizit, zum Teil explizit auf Regeln geeinigt haben. Es gibt vor allem einen Nutzer, der Regelüberschreitungen moniert. Neue NutzerInnen wirken oft irritiert durch diese Zurechtweisungen bzw. Kontrolle, sie wird aber von den „alten“ durchaus gewürdigt, auch wenn immer wieder über den selbsternannten Moderator gewitzelt wird. Im Gegensatz zu anderen virtuellen Räumen gibt es auf theinder.net keine schriftliche Netiquette oder FAQ, durch die sich neue NutzerInnen über die Regeln informieren können.
Das Forum kann auf neue NutzerInnen abgeschlossen wirken. Die Regeln sind nicht transparent, die meisten Poster scheinen sich gut zu kennen, verkehren miteinander vertraut, es ist schwierig den Faden zu finden, zu wissen, worüber gerade gesprochen wird. Es herrscht eine Vertrautheit unter den regelmäßigen NutzerInnen, zu der eine neue NutzerIn erst durch regelmäßige Besuche und genaue Beobachtung Zugang bekommt. Ist man allerdings erstmal Teil dieser Gruppe, dann kann man sich auch wirklich zugehörig fühlen. Die NutzerInnen beziehen sich klar aufeinander, sie grüßen sich, tauschen Informationen über ihr Leben aus, gratulieren zu Geburtstagen oder Prüfungen, erkundigen sich, wenn jemand länger fehlt. Wenn eine NutzerIn, das Forum nicht mehr weiter nutzen will, verabschiedet sie sich in der Regel und ihr Weggang wird von den anderen bedauert. Sie versuchen durch Postings und Private Messages, sie im Forum zu halten.
theinder.net bildet also einen virtuellen Raum, definiert durch Kommunikation und soziale Handlungen, der an einen geographisch definierten physikalischen Raum gebunden ist und der klar von anderen virtuellen Räumen abgegrenzt ist. Er ist zudem intern noch weiter unterteilt in Unterräume mit je eigenen Themen, Sprachen und Regeln. Allen Unterräumen ist aber gemein, dass die NutzerInnen im Bewusstsein sind, auf theinder.net zu sein. Die internen Abgrenzungen sind also weniger stark als die äußeren.
theinder.net nennt sich selber „Indian Online Community“. Aus meiner Beobachtung würde ich eher bezweifeln das die notwendigen Kriterien für eine Gemeinschaft unter InderInnen der zweiten Generation, die die primäre Zielgruppe von theinder.net sind, oder unter den NutzerInnen der Internetplattform gegeben sind. Allenfalls kann von einer Gemeinschaft der RedakteurInnen und einer der regelmäßigen ForennutzerInnen gesprochen werden. Allerdings herrscht unabhängig von dieser Überprüfung der Kriterien einer Gemeinschaft unter vielen NutzerInnen und auch im Bewusstsein der RedakteurInnen das Bild einer Gemeinschaft vor. theinder.net wird als Raum dieser Gemeinschaft angesehen. Hier ist man unter Seinesgleichen, hier herrscht eine Vertrautheit vor, die an physikalischen Orten nicht in dieser Weise gegeben ist. Diese Vertrautheit zeigt sich in gemeinsamen Themen, gemeinsamer Sprache und in gemeinsamen Witzen. In Anlehnung an Miller und Slaters (2000) „being Trini“ kann bei theinder.net von einem „being second generation Indian in Germany“ gesprochen werden. Hierfür hatten die NutzerInnen bevor es theinder.net gab als kleine, verstreut lebende Gruppe „Anderer Deutscher“ , die anders sind als ihre Eltern und anders als die Mehrheitsgesellschaft, kaum eigene Orte.
Die InderInnen der zweiten Generation sind aber nicht nur sie selbst auf theinder.net, sie repräsentieren sich auch wie die Trinis in Miller und Slaters Studie einer Öffentlichkeit, und sind sich dessen bewusst. Zum einen repräsentieren sie ihr Indien, bemühen sich ein möglichst positives Bild darzustellen und gegen negativ empfundene Vorurteile anzugehen. Anderseits repräsentieren sie „InderInnen“ in Deutschland und noch spezieller InderInnen der zweiten Generation in Deutschland. Sie nutzen ihre Öffentlichkeit dabei nicht nur in Abgrenzung gegenüber den Bildern in der Mehrheitsgesellschaft sondern auch in Abgrenzung gegenüber denen, die ihre Eltern pflegen und verbreiten. Das Indien von theinder.net ist ein moderneres als das der Eltern, so wird zum Beispiel anstatt klassischer Musik hier typischerweise Bhangra dargestellt. Der virtuelle Raum theinder.net wird wie Ballard (1994) schon für die British Asians festgestellt hat „on their own terms“ gestaltet. Damit ist es auch ein Rückzugsraum, an dem die „Anderen Deutschen“ unter Ihresgleichen geschützt sind und entspannt sein können.
Der virtuellen Raum theinder.net funktioniert aber nicht isoliert. Er ist nicht nur verortet im deutschsprachigen geographischen Raum, er ist auch dynamisch nur in Interaktion mit physikalischen Räumen. Die Gründer des Internetportals waren in ihrer Kindheit Nachbarn. Erst durch ihre Migration zu verschiedenen Studienorten wurde Kommunikation per email notwendig und erst aus dieser Kommunikation entstand die Idee zu einer gemeinsamen Internetplattform. Die Werbung für diese lief zu Beginn unter anderem über die Netzwerke der Bengalen in Deutschland, die sich durch das gemeinsame Feiern von Durga Puja kannten. Die für den Erfolg des Portals notwendigen Kontakte zu anderen Aktiven für die zweite Generation InderInnen in Deutschland und ein größere Öffentlichkeit erreichten die Gründer durch die Teilnahme an einem Wochenendseminar in einem rheinländischen Tagungshaus. Die meisten NutzerInnen schätzen die Terminliste für Veranstaltungen im physikalischen Raum. Ohne letzteren wäre daher theinder.net nicht so erfolgreich. Aber auch die Veranstaltungen und Netzwerke im physikalischen Raum profitieren von der Werbung, Öffentlichkeit und Kommunikationsmöglichkeit, die durch den virtuellen Raum geschaffen wurde. Es gibt so gut wie keine Zentren von InderInnen der zweiten Generation im physikalischen Raum in Deutschland. Ohne theinder.net würden daher die meisten „Anderen Deutschen“ mit südasiatischen Bezug kaum etwas von den anderen aus der zweiten Generation erfahren. Virtuelle und physikalische Räume der zweiten Generation InderInnen in Deutschland lassen sich nicht getrennt voneinander denken.
Der virtuelle Raum theinder.net ist vor allem ein Raum der zweiten Generation der InderInnen in Deutschland, ein Raum für diese spezifische Gruppe von Anderen Deutschen. Aufgrund der fehlenden geographischen Konzentration dieser Gruppe in Deutschland, war das Internet notwendige Vorraussetzung, um ein solchen Raum zu schaffen. Die Überwindung geographischer Distanz war zentral, nicht das Virtuelle des Raumes. theinder.net zeichnet sich nicht primär durch das Medium Internet aus sondern durch die Funktionen, die es erfüllt. Es bietet einen Raum der Vertrautheit, des Rückzuges und des Netzwerkens. Dies können auch Räume im physikalischen Raum bieten. Wichtig war, dass es ein neuer, selbst-gestalteter und selbst-organisierter Raum ist.
Auf konzeptioneller Ebene mag die Bedeutung des virtuellen Raums darin liegen, dass er das klassische Konzept von Raum in Frage stellt und Dynamik einführt:
„Die Entwicklung des Internets trägt mit dazu bei, Raum nicht mehr länger
als gegebene Konstante zu verstehen, als Behälter oder Rahmen, in dem sich
Soziales abspielt, sondern als durch soziale Praktiken erst Erzeugtes
aufzufassen und damit von Räumen auszugehen, die es nicht immer schon gibt,
sondern die erst durch Handlungen und Kommunikation hervorgebracht werden.“ (Schroer
2003, 71)
Der virtuelle Raum theinder.net ist ein so entstandener neuer Raum, der sich
ständig ändert.