Sommersemester 2005 - Andere Deutsche - Migration und hybride Identitäten
Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder
Dozentin: Dr. Urmila Goel, viadrina@urmila.de
Mehr Informationen auf www.urmila.de/viadrina

Die Studierenden des Seminars Andere Deutsche - Migration und hybride Identitäten beobachten seminarbegleitend "Andere Deutsche" an virtuellen oder physikalischen Orten. Auf dieser Website werden ihre unredigierten Feldwochenberichte online gestellt. Es sind erste Versuche der Feldbeobachtungen und haben nicht den Anspruch fehlerfrei zu sein. Bei Fragen und Kommentaren wenden Sie sich bitte an die Seminarleiterin Dr. Urmila Goel.

Feldbeobachtungen von Marta Kurzawa

Eine polnische WG in Berlin

09.07.05:

Während der letzten Wochen habe ich mich zwei Mal mit Hanna, Tanja und Lukas getroffen, hatte jedoch keine Zeit gehabt, die Ergebnisse dieser Treffen niederzuschreiben. Nach jedem Treffen, habe ich mir aber genaue Notizen gemacht, so dass ich jetzt problemlos wiedergeben kann, was in dieser Zeit passiert ist. Da die Drei gut wissen, dass ich sie „beobachte“, haben wir uns sehr oft über das Problem „Anderer Deutscher“ zu sein unterhalten. Sie fragten mich mehrmals, was nun das Ergebnis meiner Forschung ist und versprachen, bei der Formulierung der Schlussfolgerungen mitzuwirken und zu helfen.

            Letztes Wochenende trafen wir uns bei mir um gemeinsam zu kochen. In der Zeit wo wir uns kennen, ist es inzwischen zu einem Ritual geworden und wir kochen regelmäßig, ca. 2 Mal pro Monat zusammen. Hanna, Tanja und Lukas kamen zu mir mit großen Einkaufstaschen voll von Gemüse, Fleisch, Obst und Süßigkeiten. Gleich am Anfang sagte Hanna, dass sie eine gute Nachricht hat: Sie hat ein Praktikumsplatz in Polen bekommen. Sie wird 2 Monate lang in einem Kinderkrankenhaus als Volontärin arbeiten und bei der psychologischen Betreuung der Patienten helfen. Sie freut sich sehr über die Zusage und kann es kaum erwarten, anzufangen. Lukas hat auf das Konto von Hannas Praktikum eine Flasche Sekt gekauft und holte es überraschend aus seinem Rucksack raus. Wir fanden seine Geste sehr nett, haben Hanna „offiziell“ gratuliert und eine Runde getrunken.

Dann fingen wir an, das essen vorzubereiten. Es dauerte sehr lange, wir haben es ständig abgebrochen, da wir uns sehr intensiv unterhalten haben. Lukas hat mich gefragt, wie mein Vortrag über die alinierende Zuschreibung ausgefallen ist, und ob ich bereits mit Mecheril klar komme. An dieser Stelle muss ich anmerken, dass ich mit den Dreien, besonders mit Lukas, in den letzten Wochen ziemlich oft über Mecherils Theorien gesprochen habe. Ich sagte ihm, dass ich die „Zuschreibung“ noch mal genau durchdacht habe und inzwischen etwas anders auf dieses Thema schaue. Wir fingen an, über den Aspekt der Objektivität in der Forschung zu sprechen. Meine These war, dass er nur schwer möglich ist (ich habe es inzwischen begriffen...) und dass die meisten Forscher meistens nach Bestätigung ihrer Vorstellungen in den Ergebnissen suchen. Ich erklärte es am Beispiel meiner eigenen Feldbeobachtung: Als ich angefangen habe, die WG unter die Lupe zu nehmen dachte ich, dass Hanna, Tanja und Lukas perfekt zu der Definition passen, da sie nach der Definition alle Voraussetzungen erfüllen, um als „Andere Deutsche“ klassifiziert zu werden. Während Hanna mir erzählt hat, dass sie als kleines Kind einige negative Erfahrungen mit Deutschen gemacht hat, wurde ich gleich extrem aufmerksam und habe es natürlich für Bestätigung meiner Annahmen gehalten, dass „Andere Deutsche“ natürlich als anders von der Umgebung gesehen werden. Ich gab dann aber zu, dass ich mich während der Beobachtung mehrmals gefragt habe, ob das alles überhaupt Sinn macht, da die Drei sich so perfekt in Deutschland wiedergefunden haben und man denen fast nicht ansieht, dass sie eigentlich keine Deutsche sind. Ab und zu habe ich sogar bereut, dass ich keine Homepagebeobachtung, wie die meisten in unserer Seminargruppe, mache... Wo ist der Haken, fragte ich mich ständig.

Und dann kam Tanja und sagte etwas, was mich total verwirrt hat. Sie meinte nämlich, dass sie nur eine Seite der „polnischen Medaille in Berlin“ repräsentieren. Denn sie kommen aus Familien, deren Eltern es geschafft haben ihre Position in Deutschland zu etablieren, beruflich erfolgreich zu sein und hohen Lebensstandard zu erreichen. Die Drei hatten deshalb ein sehr positives Beispiel zu Hause, welches ihnen geholfen hat, die persönlichen Ziele auch auf einem sehr hohen Niveau zu setzen. Es gibt aber, sagte Tanja, eine große Gruppe von „Anderen Deutschen“ polnischer Herkunft, die sich in Deutschland überhaupt nicht wiederfinden können. Sie kamen nach Deutschland oft durch einen Zufall, zum Beispiel, weil sie wegen ihrer Wurzeln die deutsche Staatsangehörigkeit bekamen und so, aus Polen, in Zeiten des Kommunismus, auswandern konnten. Diese Gruppe von Menschen, hat es nie versucht, ihr Lebensniveau mit dem der Deutschen zu gleichen, meint Tanja. Sie sprechen oft nur ganz schlechtes Deutsch und sehen kein Ziel darin, es zu lernen. „Es ist kein Leben, es ist eine bloße Existenz im Ausland, da dieses Ausland nie zu ihrem neuen Zuhause wird“, sagt sie. Die Kinder dieser polnischen Immigranten wollen die Chancen, die ihnen Deutschland bietet, auch nicht nutzen. Sie bilden eine „problematische Schicht“, wie sie Tanja genannt hat (problematische Generation?). Ich habe sie dann gefragt, wie sie auf diese Gedanken gekommen ist und ob sie in ihren Aussagen nicht all zu viel generalisiert. Sie antwortete, dass sie viele solcher Menschen in der polnischen Schule zu der sie parallel zu der deutschen gegangen ist, kennen gelernt hat.

Es wundert mich nur, wieso Tanja mit solcher Wut über diese Menschen spricht. Sie selbst, ihre Mitbewohner, ihre Familie sind doch ein perfektes Beispiel dafür, dass das Schicksal des Einzelnen nur von ihm selbst abhängt. Sie selbst macht einen Erfolg nach dem anderen, wieso konzentriert sie sich so sehr auf die negativen Aspekten der polnisch-stammenden Minderheit? Sie sagte, dass wegen diesen Menschen, die Polen in Deutschland einen schlechten Ruf haben, dass die deutschen ihnen gegenüber sehr skeptisch sind und dass das Vorurteil des „polnischen Gastarbeiters“ nie verschwinden wird. Ich habe den Eindruck, dass sie sich selbst sehr Stark mit dieser Gruppe identifiziert, weil sie die selbe Herkunft wie sie hat und ihre Eltern Polen sind. Sie fühlt sich dadurch „anders“, sie fühlt sich so, als ob sie alle Merkmale eines „anderen Deutschen“ hätte. Das hat einen sehr großen Einfluss auf ihr Selbstbewusstsein.

Wir kochten weiter. Machten Witze. Es war sehr lustig und irgendwann wurde das Thema auf das „Zuhause“ gelenkt. Die Drei fühlen sich in Deutschland zu Hause. Polen ist für sie das „faszinierende Ferienland“ wie es Lukas genannt hat. Hanna jedoch hat ein bisschen Sehnsucht, deshalb das Praktikum, sie will sehen wie es ist, so richtig in Polen zu leben, mit richtigen Pflichten, wie das tägliche- und das Berufsleben dort aussieht.

Am Abend hat Vera, Lukas Freundin, angerufen und gefragt, ob wir Lust hätten den „Krieg der Welten“ im Kino zu sehen. Wir hatten Lust, und gingen los. Ich fand es nur sehr Schade, dass wir unseres Gespräch im Kinosaal nicht weiter führen konnten.

 

Diese Woche habe ich mich mit Lukas getroffen um von ihm Paar Bücher zu leihen. Ich muss dieses Semester einige Prüfungen in BWL bestehen und er bot mir Hilfe an. Wir haben uns kurz über das Gespräch mit Tanja während unseres Kochens unterhalten. Er hat dieselben  Eindrücke wie ich, dass sie sich stark mit der ganzen Gruppe der polnischen Deutschen identifiziert und dass sie von den schlechten Beispielen immer sehr berührt ist. Er hat viel über das alles nachgedacht und festgestellt, dass er sich auch dieser Gruppe zugehörig fühlt. Obwohl er perfekt deutsch spricht, sich in Deutschland wohl fühlt, weiß er irgendwie, dass er den „normalen“ Deutschen nicht gleich ist. Das macht ihn anders, genau das Gefühl, es ist also nur die bloße Herkunft, der Geburtsort. Lukas bot mir an, nächstes Wochenende mit sich ein Interview durchzuführen. Ich glaube, ich werde die Chance nutzen. Er ist bereit alle Fragen zu beantworten, ein sehr persönliches Gespräch durchzuführen da „wir uns schon ewig und gründlich kennen“, wie er sagte. Da muss ich mich aber ganz sorgfältig vorbereiten.

20.06.05:

Am Freitag Abend wurde ich zur Geburtstagsparty von Marco, Hannas Freund, eingeladen. Einer seiner Freunde, der DJ ist, sollte in einem Club an der Potsdamer Straße auflegen und hat mit der Geschäftsführung vereinbart, dass Marco und seine Gäste um sonst in den Club reingehen dürfen. Jeder sollte am Anfang nur das Passwort „Silicon Funk“ sagen. Wir haben uns um 23 Uhr vor dem Club getroffen. Tanja, Lukas und Vera waren auch dabei. Der Club befindet sich in einem ehemaligen Bankgebäude, zumindest sieht das Gebäude wie ein typisches Bank- oder Bürogebäude aus. Wir gingen rein und fuhren mit dem Fahrstuhl in den sechsten Stock. Marco hat schon auf uns gewartet. Viele seiner Freunde vom Football-Team waren auch da. Ich ging mit Lukas zur Bar und bestellte Drinks. Dann fing das Highlight des Abends - das Konzert, wo Marcos Bekannter auflegte, an. Es war fantastisch. Die Gruppe spielte Funk, der Vokalist hatte eine wunderbare Stimme, er tanzte und versuchte das Publikum auch zum tanzen zu bringen. Es ist ihm sehr gut gelungen, alle begannen zu tanzen oder sogar mitzusingen.

            In diesem Club gibt es eine Tarasse mit wunderschönem Blick auf Berlin. Als mir die Musik etwas zu laut wurde, ging ich dort um etwas frische Luft zu atmen. Ich traf Vera, die dort eine Zigarette rauchte. Wir sprachen über das Konzert. Sie fand es auch toll, vor allem der Sänger hat ihr gut gefallen. Das, wie er sich bewegt hat, wie er getanzt hat, obwohl er keine speziellen Figuren gemacht hat, war sehr beeindruckend. „Schwarze fühlen die Musik einfach besser“ sagte sie. Natürlich wurde ich nach diesem Satz sehr wachsam und fragte sie, ob sie wirklich so denkt. Sie sagte, dass dieses Statement biologisch gesehen totaler Unsinn ist, aber es ist schon wahr, dass Menschen mit schwarzen Hauptfarbe manche Sachen einfach besser als Weiße machen. Vera erzählte mir, dass über diese Sachen sehr lange nachgedacht hat und kam zu dem Entschluss, dass sie diese Fähigkeiten erstens von der Kultur und zweitens von geographischen Bedingungen Afrikas ableiten kann. Afrikanische Kultur, mit ihren Folkstänzen, die die Stämme praktizieren, hat in den Menschen dort ein besonderes Gefühl für Rhythmus entwickelt, was sie dazu bringt, sich anders und besser zu bewegen. Die geographischen Bedingungen in denen sie leben, verstärken ihre Ausdauerfähigkeit, was sich von Generation zu Generation immer stärker entwickelt hat. Deshalb, meint Vera, sind schwarze Sportler die besten Sprinter und Marathonläufer. Zum Schluss sagte sie mir, dass sie davon träumt, irgendwann ihre Theorie mit der Forschung zu bestätigen. Ich war, ehrlich gesagt, etwas überrascht von dem, was sie erzählt hat und fragte sie, ob ihrer Meinung nach diese Theorie nicht rassistisch sei. Sie meinte dagegen, es sei nur realistisch, weil sie damit versucht konkrete Statistiken und das, was sie sieht zu erklären. Dann hat sie mich gebeten alles, was sie gesagt hat „noch offen zu lassen“ und sie noch mal darauf anzusprechen. Sie meinte sie ist etwas betrunken und unkonzentriert und vielleicht hat sie es zu oberflächlich erklärt. Rassistin ist sie aber auf jeden Fall nicht, das sagte sie mit voller Überzeugung.

            Die Party ging noch einige Stunden, wir haben getanzt und eine Menge Spaß gehabt. Marco war mit seinem Geburtstag sehr zufrieden. Als ich endlich nach Hause kam, habe ich intensiv an das Gespräch mit Vera gedacht. Nach den letzten Seminaren habe ich wirklich ein Problem mit dem Begriff „Rassismus“. Ich denke, dass man ihn vorsichtiger gebrauchen und nicht JEDE Kategorisierung dem Rassismus gleich stellen sollte. Das was Vera gesagt hat, hat Sinn und mit Statistiken kann man nicht diskutieren... Andererseits kann man damit Gefühle anderer Menschen verletzen. Aber, kann man Gefühle und Fakten einfach so nebeneinander stellen? Ich habe den Eindruck, dass ich momentan überhaupt nichts zu diesem Thema sagen kann, jede Antwort scheint für mich, falsch zu sein weil sie eben kategorisiert. Und, vor allem, alles worüber ich denke bezieht sich eigentlich auf die Hautfarbe. Die Hautfarbe bedeutet aber Herkunft – die geographischen Umstände von denen Vera spricht, damit alles was die Menschen dort prägt... Heißt das, dass mein Denken doch rassistisch ist?

13.06.05:

Ich war einige Tage bei meinen Eltern in Stettin, weshalb ich die WG in der letzten Woche nicht besuchen konnte. Am Sonntag am frühen Nachmittag hat mich Lukas angerufen und – Achtung – zu sich eingeladen, da er mir unbedingt seine neue Freundin vorstellen wollte. Wir haben uns am Abend getroffen. Sie heißt Vera und ist Deutsche. Sie ist 22 und studiert Humanmedizin in Berlin. Die beiden haben sich auf einer Party im Studentenwohnheim bei Freunden von Lukas kennen gelernt.

            Ich habe Vera gleich gesagt, dass ich für den Kurs an der Viadrina eine Feldbeobachtung in der Wohnung ihres Freundes mache. Nach der letzten Affäre mit der Beobachtung einer Homepage wollte ich alles am Anfang klären, damit es später zu keinen Problemen kommt. Vera fand diese Idee toll und hatte nichts dagegen, dass ich über sie schreibe. Sie meinte sogar, dass durch ihr Auftauchen im Feld alles interessanter wird, weil sie hundertprozentige Deutsche ist, die mit einem „Anderen Deutschen“ zusammen ist. Sie hat mich auch gebeten ihr die Ergebnisarbeit zu zeigen. Die wöchentlichen Berichte will sie nicht lesen, weil sie am Ende überrascht sein möchte. Ehrlich gesagt, habe ich mich auch gefreut, dass sie jetzt so eng an meinem Forschungsfeld ist. Lukas und Vera haben mir von dem Moment erzählt wo sie sich zum ersten Mal sahen. Vera hatte am Anfang keine Ahnung davon, dass er ein Ausländer ist. Sie sagte: „Er ist halt so... Deutsch“. Sie hat Lukas besonders mit ihrem Hobby beeindruckt. Sie interessiert sich für Motorräder, ähnlich wie er. Die beiden planen schon ihren ersten Motorradausflug.

Wir haben uns ca. drei Stunden sehr nett unterhalten. Wir waren alleine in der Wohnung, da die Mädchen zum Wochenende mit ihren Freunden ins Harzgebirge gefahren sind. Irgendwie unterbewusst habe ich das Gespräch immer wieder auf das Thema „Andere Deutsche“ gelenkt. Veras Meinung über die WG würde mir zu der Auseinandersetzung mit Mecherils Definition perfekt passen, denn sie sieht alles aus dem Standpunkt eines Deutschen. Deshalb war ich in Momenten, wo sie Lukas für sein absolut akzentfreies Deutsch bewundert hat, besonders aufmerksam. Ich wollte sie sogar Fragen, was sie von Menschen hält die jahrelang in Deutschland leben und sich trotzdem fremd fühlen oder Deutsch nicht erlernen können, aber dann schien mir diese Frage zu persönlich für das erste Treffen und ich habe es sein gelassen. Spät am Abend haben wir noch eine Pizza bestellt. Gegen Mitternacht lies ich die beiden alleine und ging zurück nach Hause.

29/05/05

            Ich treffe mich mit Hanna und Tanja um zusammen mit ihnen einen polnischen Film zu sehen. Hanna hat ihn von ihrem Cousin aus Danzig, der Anfang der Woche bei ihr zu Besuch war, auf DVD ausgeliehen. Er soll sehr bewegend sein. Wir machen uns eine Riesengroße Schüssel Popcorn und setzen uns vor dem Fernseher in Hannas Zimmer. Der Film handelt von einer Hochzeit im polnischen Dorf. Diese scheint auf den ersten Blick, sehr traditionell zu sein: Sie findet in einer kleinen Kirche statt, danach gibt es eine große Feier, so wie sie meistens in vielen polnischen Dörfern gefeiert werden. Die Gäste tanzen, jemand wird verprügelt, viele sind betrunken, es gibt verschiedene Spiele, die oft sehr primitiv sind... Viele der Gäste sprechen über Geld, sie wünschen dem Paar VIEL GELD und vielleicht noch Glück im Leben. Der Vater der Braut erzählt, wie viel ihn die Hochzeit gekostet hat, wie teuer die Hochzeitreise und die Geschenke waren. Der Film hat ein sehr tragisches Ende: die Braut erfährt dass ihr Ehemann von ihrem Vater bestochen wurde und sie gar nicht liebt. Sie rennt weg, ihre Familie fällt auseinander, ihr Großvater stirbt, die Gäste gehen nach Hause, sprechen über Geld...

            Der Film endet und wir schweigen. Die Stimmung ist traurig, keine von uns weiß was sie sagen soll. Hanna erzählt endlich, dass sie mal auf einer Hochzeit auf einem polnischen Dorf war. Sie hat damals auch bemerkt, dass hohe materielle Position auf der polnischen Provinz eine sehr große Bedeutung hat. Reiche Menschen können einfach alles haben, was sie wollen. Sie können sich sogar den Respekt anderer kaufen, die wahren Werte des Lebens haben da eine zweitrangige Position.

            Wir diskutieren lange über dieses Thema. Tanja erzählt über polnische Gastarbeiter, die sie in Berlin kennen gelernt hat. Es sind, ihrer Meinung nach, Menschen durch die Vorurteile über Polen entstehen. Diese Leute, findet sie, sind oft bereit, für materielles Nutzen beinahe alles zu tun. Dabei vergessen sie häufig von ihrer Würde und werden einfach ausgenutzt. „Die Deutschen lachen dann über uns und denken, dass Polen gerne fast um sonst für sie arbeiten werden“ sagt Tanja. Sie erzählt, dass sie ab und zu mit einer deutschen Firma zusammenarbeitet, die gerade dabei ist, sich auf dem polnischen Markt zu etablieren. Sie fährt mit der Geschäftsführung manchmal als Dolmetscherin zu Verhandlungen nach Polen. Oft, berichtet sie, hat sie ironische Kommentare ihrer deutschen Kollegen gehört, dass ihre polnischen Mitarbeiter durch viel kleinere Beträge als die Deutschen zu einer effizienter Arbeit motiviert werden.

Ich versuche ihr zu erklären, dass das Preisniveau und der Lebensstandard in Polen niedriger ist als in Deutschland, weshalb dort eine relativ niedrige Vergütung in Euro einen großen Wert haben kann. Aber Tanja scheint in diesem Punkt etwas übersensibel zu sein. Ich denke, dass sie auf diesem Gebiet negative Erfahrungen mit Deutschen gemacht haben muss. Vielleicht waren es auch ihre Eltern, die sich als ausländische Unternehmer auf dem deutschen Markt durchkämpfen mussten? Ich werde sie irgendwann noch zu diesem Thema ansprechen. Der Film hat uns allerdings sehr bewegt. Während unserer Diskussion über polnische Provinz und Wertekanon der Polen, habe bemerkt, dass Hanna und Tanja, obwohl sie (fast) das ganze Leben in Berlin verbracht haben, gut fühlen können, was und wie Polen denken und welche Einstellungen sie zum Leben haben. Das kann der Einfluss ihrer Eltern sein, die sie immerhin in der polnischen Kultur erzogen haben, selbst vollständig in Polen sozialisiert wurden und erst als Erwachsene nach Deutschland gezogen sind. Ich denke, dass wir uns über diese Themen noch oft unterhalten werden.

22/05/05

Ich hatte diese Woche kaum Zeit um die WG in Wedding zu besuchen. Die Zeit läuft so schnell davon... Am Mittwoch hat mich Hanna angerufen und erzählte von ihrer Suche nach einem Praktikumplatz in Polen. Es ist unheimlich schwer eine polnische Internetplattform mit aktuellen Praktikumangeboten zu finden. Hanna beschloss ihre Cousins, die in Poznan wohnen und studieren, um Hilfe bei der Suche zu bitten. Sie macht sich Sorgen, dass sie während des Praktikums Probleme mit der psychologischen Fachterminologie haben kann. Diese kennt sie auf deutsch oder englisch, auf polnisch hat sie es nie gelernt. Ich verspreche ihr, für sie ein Naturwissenschaftenwörterbuch zu kaufen, da ich nächste Woche nach Polen fahre. Hanna meint, dass es in den Berliner Buchhandlungen solche Wörterbücher nicht gibt.

                  Nach unserem Seminar am Dienstag, habe ich mir viele Gedanken über Mecherils Definitionen gemacht. Rein theoretisch genommen, ist meine Wedding WG eine „Andere Deutsche“ WG. Die Drei wurden in Deutschland sozialisiert und ihre Eltern kommen aus dem Ausland. Sie sind zwischen zwei verschiedenen Kulturen aufgewachsen, aber das scheint für sie kein Problem zu sein. Zwar hatten sie in ihrer Kindheit manchmal Probleme mit Deutschen, die sie als anders angesehen haben, doch diese sind jetzt vorbei. Hanna, Tanja und Lukas sprechen perfekt deutsch, ich würde sagen sie haben öfter Probleme akzentfrei polnisch zu reden. Sie haben sich in der deutschen Kultur perfekt wiedergefunden. Deshalb sind sie, sofern ich sie bisher beobachtet habe, als Ausländer praktisch nicht erkennbar und werden von ihrer Umgebung auch nicht als solche betrachtet. Passt dieses Forschungsfeld eigentlich zu Mecherils Definition, die sich, meiner Meinung nach sehr stark auf verschiedene Aspekte der Diskriminierung bezieht?

14/05/05

            Lukas schläft den ganzen Vormittag. Letzte Nacht war er auf einer Party mit seinen Freunden und kam erst um fünf nach Hause.

            Tanja räumt ihr Zimmer auf. Sie hat beschlossen, trotz ihrer finanziellen Probleme, doch in der WG zu bleiben. Das Aufräumen ist für sie ein Neuanfang, sie will es mit dem erwachsen und selbstständig sein noch mal versuchen. Sie putzt die Fenster, räumt ihren großen Kleiderschrank aus und wirft alle Sachen weg, die sie seit einem Jahr nicht angezogen hat. Sie findet viele Bücher, die sie noch am Anfang des Grundstudiums benutzt hat und beschließt sie bei E-Bay zu verkaufen. Später entscheidet sie sich, das Zimmer umzumöblieren, aber dazu braucht sie Lukas¢ Hilfe. Ich unterstütze sie bei dem Aufräumen. Ich habe ihr für den Neuanfang in der WG eine Pflanze gekauft, worüber sie sich sehr freut.

            Gegen Mittag kommt Hanna zurück von der Schwimmhalle. Sie hat sich vorgenommen, jedes Wochenende schwimmen zu gehen. Zwei Kommilitoninnen von Hannas Uni kommen vorbei um gemeinsam ein Referat vorzubereiten. Kurz sprechen wir miteinander in der Küche. Die beiden erzählen, dass sie im Rahmen ihres Psychologiestudiums 600 Stunden Praktikum absolvieren müssen. Hanna überlegt, ob sie ein Teil davon vielleicht in Polen belegen wird. Sie erzählt, dass sie keine Probleme mit der Unterkunft hätte, da sie bei ihrer Oma wohnen könnte und diese wohnt in einer großen Stadt. Da wäre es bestimmt einfach, ein unbezahltes Praktikum für eine Psychologiestudentin zu finden. Hannas Kommilitoninnen finden die Idee großartig und fragen, ob sie eventuell mitkommen könnten. Das einzige Hindernis ist bei denen nur die Sprache – sie sprechen kein polnisch. Nach unserem Gespräch gehen die drei in Hannas Zimmer und schließen die Tür.

            Ich helfe Tanja ihre alten Sachen zum Müllcontainer zu tragen. Es waren viele, in ihrem Zimmer ist jetzt viel mehr Platz. Danach trinken wir zusammen Kaffee. Sie erzählt, wie schrecklich sie Piercings findet. Sie kann diesen Modetrend überhaupt nicht verstehen, aber es scheint in Deutschland der absolute Hit zu sein. Sie erzählt mir von einem jungen Mann, denn sie letztens am Bahnhof Zoo gesehen hat, der in seinem Gesicht ca. 8 Piercings hatte.

            Lukas kommt in die Küche und sagt, dass ihn alle in Ruhe lassen sollen, weil er einen furchtbaren Kater hat. „Es ist schrecklich, diese Strafe, einfach schrecklich“ sagt er. Er nimmt sich ein Kefir aus dem Kühlschrank und geht zurück ins Zimmer.

            Kurz darauf verlasse ich die WG. Während ich rausgehe klingelt das Telefon. Tanja geht ran. Es ist ein Mädchen, das Lukas sprechen will.

4/05/05

            Hanna ist eine wunderschöne junge Frau. Mit ihrer perfekten Figur und lockigem blonden Haar zieht sie die Blicke der meisten Männer auf sich. Sie raucht und ist dabei unheimlich sexy, wie es Lukas mal gesagt hat. Sie ist elegant, trägt einen schwarzen Borsalino-Hut, ein Sakko, manchmal sogar Krawatten. Mit ihrem Stil unterscheidet sie sich von vielen Menschen ihres Alters und erinnert mich mit ihrem Aussehen unheimlich an Marlene Dietrich. Sie mag das, ihr wurde zu Hause immer wiederholt, sie sei besonders. In der Vergangenheit bekam Hanna diese Besonderheit manchmal zu spüren, erzählt sie. In der Grundschule, erinnert sie sich, sagte ein anderes Kind zu ihr: „Mama hat gesagt, dass Polen uns nur die Arbeitsplätze wegnehmen und faul sind. Verzieht euch, ihr blöden Polaken!“ Dieser Moment, war ein Wendepunkt in Hannas Leben. Obwohl sie damals nur zehn Jahre alt war, beschloss sie in ihrem Leben an die absolute Spitze zu gelangen damit kein Deutscher ihr je vorwerfen kann, dass sie als Polin auf irgendwelchem Gebiet schlechter ist. Ich denke, es ist ihr im größten Teil gelungen: Sie spricht akzentfreies Deutsch und zwei weitere Sprachen, schaffte ihr Abitur mit 1,3 und ist jetzt eine der besten Psychologiestudentinnen ihres Jahrgangs. Sie ist überdurchschnittlich fleißig, organisiert und zielstrebig. Fast preußisch... Nach dem Studium wird sie Business Woman. Sie will ihre eigene Firma gründen und Schulungen für Top-Manager organisieren. Nebenbei möchte sie noch wissenschaftlich mit Studenten arbeiten.

            Hannas Familie ist sehr stolz auf die Tochter. Ihre Mutter, die ich zufällig in der letzten Woche bei den dreien getroffen habe, sagte mir, sie bewundert die von ihrer Tochter entwickelte Fähigkeit, den „Lebensdualismus“ zu akzeptieren und sich dort wiederzufinden. Lebensdualismus? Hanna berichtet, sie lebte als Kind gleichzeitig in zwei verschiedenen Kulturen: zu Hause in der polnischen, konservativen durch Katholizismus geprägten und draußen in der deutschen, liberalen, toleranten und fremdenfeindlichen zugleich. Zu Hause wurden ihr Werte wie Treue, Stolz, Reife und Verantwortung beigebracht, in der Schule sah sie Mädchen die jedes Wochenende einen anderen Freund haben und mit sechszehn beschließen das ganze Leben auf Madagaskar Insekten zu beobachten... Hannas Eltern, erzählt sie, haben sehr viel Wert auf die Allgemeinbildung der Tochter gelegt. Sie haben sie mit verschiedenen Leidenschaften angesteckt, sie haben ihr beigebracht, Bücher zu lieben. Das Ergebnis? Sie weiß alles, kennt sich in sehr vielen Sachen aus. Sie sagt mir, es ist für sie furchtbar wie wenig Ahnung ihre Freunde von manchen Sachen haben und wie leicht sie das Leben nehmen. Auf einer Seite ein Genie und eine erwachsene Frau. Auf der anderen, ist Hanna ein fröhliches lebensfreudiges Mädchen. Sie mag Discos, fährt Moped, hat einen Freund der American Football-Spieler ist. Marco[1] liebt ihre Art. „Sie ist halt anders“ sagt er mir. Wie anders? Anders als wer? „Na anders als die normalen’ Mädels. Sie ist irgendwie... tiefer. Sie ist faszinierend. So wie von einer anderen Welt. Sie hat Prinzipien. Das ist der Einfluss ihrer Familie und einer slawischen Seele“ meint er. Marcos Kumpels waren total überrascht als sie Hanna kennen gelernt haben. Sie erwarteten eine „typische Polin“, wie er es ausdrückt, die schön und naiv ist und mit einem starken Akzent spricht. Und er kam mit einer wundervollen, selbstbewussten Frau.

            Hanna und Marco verstehen sich prima. Sie haben viele gemeinsame Themen, obwohl sie eigentlich völlig anders sind. Sie sprechen über ihre gemeinsamen Freunde, über die Wirtschaftsentwicklung der Welt (darüber können die beiden STUNDENLANG diskutieren), über ihren Sohn, der in 2-3 Jahren auf die Welt kommen soll und einen polnischen Namen bekommt, über Marcos Sport und über ihre Reisen (sie waren im letzten Sommer zusammen in Russland). Hannas Eltern mögen Marco, er ist schon fast ein Familienmitglied. Nur Hannas Großmutter hat ein Problem damit, dass sie mit einem Deutschen zusammen ist.


[1] Marco ist Hannas Freund. Sein Name ist geändert.

 

02.05.05:

25/04/05

            Anna feiert ihren 24. Geburtstag. Sie organisiert in der WG in Wedding eine kleine Party, zu der sie ihre Freunde einlädt. Diese sind überwiegend Deutsch, es kommen auch einige Polen. Alle Gäste kommen pünktlich, gegen 20 Uhr. Ihre Mitbewohner (Katja und Andreas) feiern mit. Die Stimmung ist anfangs etwas offiziell, die Gäste unterhalten sich still in kleinen Gruppen.

Andreas schlägt vor das polnische Geburtstagslied „Sto lat“ zu singen. Ich merke, dass er polnisch mit einem starken deutschen Akzent spricht. Annas Freund findet das Lied etwas zu nostalgisch und schaltet danach eine CD mit Tanzmusik ein. Es gibt kaum Alkohol. Katja erzählt ihren Freundinnen über ihr Auslandssemester in Spanien. Sie hat dort eine Menge gelernt, auch viel über sich selbst erfahren, sagt sie. Im Sommer will sie in Barcelona ein Volontariat absolvieren und mit behinderten Kindern arbeiten. Anna möchte unbedingt mit. Alle beginnen über den Sinn vom sozialen Engagement zu sprechen. Es wird als sehr wichtig empfunden, bereit zu sein anderen Menschen zu helfen. In Deutschland gibt es wunderbare Möglichkeiten sich das Leben gut zu organisieren, meint Annas Freund. Und gerade deshalb sollten junge Deutsche imstande sein so viel Demut zu entwickeln um wahrzunehmen, dass es nicht überall auf der Welt so ist.

Gegen Mitternacht geht die Feier zu Ende. Andreas findet sie langweilig und aufgeblasen, „typisch für junge intellektuelle Psychologen[1]“, wie er es ausdrückt. Er beginnt mit Anna zu streiten, sie rät ihm sich endlich eine feste Freundin zu finden, weil er anscheinend mit seiner Single-Frust nicht mehr zurecht kommt. Andreas flucht etwas auf polnisch, fragt mich, ob ich jetzt nach hause gehe und wir gehen zusammen raus. Wir fahren zusammen zwei Stationen mit der U-Bahn. Am Leopoldplatz steigt er aus und verschwindet schweigend.

28/04/05

            Anna beschließt mit dem Rauchen aufzuhören. Sie wird von ihrem Freund dazu motiviert.

            Katja und ich treffen uns mit ihren Bekannten von der Uni zum Essen. Wir sollen gemeinsam etwas kochen. Wir machen eine Gemüsesuppe mit Nudeln, nach der Rezeptur von Katjas Oma. Ich bin fürs Mohrenreiben zuständig... Jemand beginnt, beim Kartoffelschälen, über den neuen Papst und das, wie er von den Medien dargestellt wird, zu sprechen. Er wird mit Karol Wojtyla verglichen und wir diskutieren über die Bedeutung Johannes Paul II. in der europäischen Gegenwartsgeschichte. Katja ist an diesem Thema nicht besonders interessiert. Sie endet es indem sie sagt, dass Tod Wojtylas ein Tod eines herausragenden Humanisten war, nichts mehr.

            Katjas Freunde beschließen im Sommer zusammen nach Zypern zu fahren. Katja will unbedingt mit, aber sie hat momentan finanzielle Probleme. Sie beschwert sich über eine hohe Wasserrechnung, die sie ruiniert hat. Die Selbstständigkeit gefällt ihr immer weniger, sie kann mit dem Geld nicht so gut alleine umgehen und überlegt wieder bei ihren Eltern einzuziehen. Sie sind vor kurzem in ein großes Haus in Kleinmachnow umgezogen. Eine Freundin erinnert Katja an die Gründe, weshalb sie überhaupt ihr Elternhaus verlassen hat: Es hat sie irritiert, dass ihre das hohe Lebensniveau so sehr nach außen präsentieren wollen. Katja hat sich oft darüber beschwert, meint die Freundin, dass ihre Eltern verschwenderisch leben um ihren Wohlstand zu demonstrieren. Das neue Haus sei, meinte Katja bevor sie von zu Hause wegzog, nur ein Schritt um die eigenen Komplexe zu überwinden und den Deutschen zu beweisen, dass Polen auch imstande sind in Deutschland als ehrliche Unternehmer erfolgreich zu sein. Katja zweifelt, ob sie jetzt ohne der Hilfe ihrer Eltern auskommt.

      

            Am Abend entschuldigt sich Andreas bei Anna für sein Verhalten nach ihrer Geburtstagsparty. Er kommt in ihr Zimmer mit einer großer Packung von Milka-Herzen und erklärt, dass er es nicht böse gemeint hat und dass manche ihrer „Psychologen“, wie er ihre Studienkommilitonen nennt, für ihn zu wenig konkret sind und dass er mit ihnen nicht klar kommt. Er behauptet witzig, er sei ein typischer BWLer und versteht nicht, wieso die Psychologen immer alles so kompliziert machen und stundenlang über Selbstverständlichkeiten diskutieren. Anna verzeiht ihm und sie verabreden sich für den nächsten Tag zum Schoppen.


[1] Anna studiert Psychologie, viele der Gäste waren ihre Studienkommilitonen.

 

17.04.05:

Als „Andere Deutsche“ werden Menschen multikultureller Herkunft bezeichnet, die (meistens) in Deutschland geboren wurden und die den größten Teil ihrer Sozialisation in Deutschland verbracht haben (Mecheril und Teo, 1994, S. 12). Während Ihrer Sozialisation wurden sie von der Kultur ihrer Eltern und von der deutschen intensiv beeinflusst. Diese beiden kulturellen Einflüsse können oft im Konflikt zueinander stehen und die Bildung einer einheitlichen Identität der „Anderen Deutschen“ stören. Denn es ist die Kultur welche „die Lebensweise des einzelnen Gruppenmitgliedes grundlegend beeinflusst“ (Ebd., S. 19).

Ähnlich verlief dieser Prozess im Falle von den drei Bewohnern einer „polnischen“ Wohngemeinschaft in Wedding in Berlin. Sie sind Kinder polnischer Immigranten, die am Anfang der achtziger Jahre nach Deutschland gekommen sind. Alle von Ihnen wurden 1982 in Berlin geboren. In polnischen Familien, durch polnische Eltern erzogen, verbrachten Hanna, Tanja und Lukas* ihre Sozialisation in Berlin. Sie besuchten zwei Grundschulen: jeden Tag eine deutsche und zusätzlich zwei Mal in der Woche eine polnische. Zwei von ihnen haben sogar eine deutsche Staatsangehörigkeit. Nach ihrer Muttersprache gefragt, antworten sie nach kurzem Schweigen „polnisch“ wobei sie deutsch eigentlich viel besser sprechen. Mit sich selbst unterhalten sie sich meistens auf Deutsch. Genauso wie junge Deutsche beschlossen sie sich nach dem Abitur zu verselbstständigen und zogen von zu Hause aus. Sie studieren an einer deutschen Hochschule, repräsentieren das gleiche Niveau, haben die gleichen Ziele und vertreten die gleichen Werte wie ihre deutschen Freunde. „Menschen „nicht-deutschen Aussehens“ müssen jeden Tag damit rechnen, dass über sie ein Ensemble von Unterschieden und Bedeutungen konstruiert wird“ (Ebd., S. 17). Hanna, Tanja und Lukas unterscheiden sich von „normalen“ Deutschen mit ihrem Aussehen überhaupt nicht – denn sie sehen genau so wie Deutsche aus. Trotzdem werden sie oft, in unterschiedlichen Situationen als „anders“ angesehen. Für „normale“ Deutsche sind sie Polen, für „hundertprozentige“ Polen sind sie Deutsch. Auf den ersten blick ist ihre eigentliche Identität schwer zu erkennen. Und sie selbst haben auch das Gefühl anders zu sein.

Die „anderen Deutschen“ aus der polnischen WG in Wedding wurden als Beobachtungsgegenstand gewählt, weil ihr „Anders Sein“ nur sehr schwer erkennbar jedoch immer noch von Deutschen nicht zu übersehen ist. Alle weiteren Schritte der Untersuchung sollen, in Anlehnung an Definitionen verschiedener Autoren, Antwort auf die Frage geben, welches Handeln, Erfahrungen oder Verhaltensmuster der Untersuchten ihre Differenz bedingen. Das Problem, ob es für Menschen die sich nur im geringen Maße von „normalen Deutschen“ unterscheiden  überhaupt möglich ist, sich in die Gesellschaft so intensiv einzuleben um als Anderer nicht erkannt zu werden, soll zu einer zentralen Frage dieser Untersuchung werden.


 

* Namen der hier untersuchten „Anderer Deutschen“ sind fiktiv.

© Urmila Goel, www.urmila.de 2005