„Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), hat die Kritik der Migrantenverbände an der Umsetzung des Nationalen Integrationsplans zurückgewisen. "In der Integration haben wir im vergangenen Jahr sehr große Fortschritte gemacht. Das dokumentieren die Bilanzierungen, die insbesondere Bund, Länder, Kommunen und auch die Wohlfahrtsverbände auf dem nächsten Integrationsgipfel vorlegen werden", sagte Böhmer. "Aber natürlich bleibt weiterhin viel zu tun." Dabei helfe es aber nicht, wenn die Verbände die längst bekannte Kritik an den Rechtsänderungen zum Familiennachzug und zur Einbürgerung wiederholen würden.“ (taz, 27.10.08)
Mit diesen Worten weist die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung die Zwischenbilanz von 17 Migrant_innenverbänden zum Nationalen Integrationsplan im Vorfeld des dritten Integrationsgipfels im November 2008 zurück. Sie macht damit deutlich, dass es aus ihrer - und damit aus der Perspektive des deutschen Staates - nicht die ‚Migrant_innen‘ und ihre Verbände sind, die darüber urteilen dürfen, was erfolgreiche Integration ist und wie diese erreicht werden kann. Das Recht dies zu beurteilen, verortet sie stattdessen bei „Bund, Länder[n], Kommunen und auch … [den] Wohlfahrtsverbände[n]“, also den Vertreter_innen der Dominanzgesellschaft . Diese sind vermutlich auch mit dem „wir“ gemeint, wenn Böhmer im Gegensatz zu den Migrant_innenverbänden sagt, dass „wir im vergangenen Jahr sehr große Fortschritte gemacht“ haben. Sie gesteht zwar ein, dass noch viel zu tun blieben für die Integration, stellt aber gleichzeitig fest, dass es nicht gewünscht sei, dass Migrant_innenverbände dabei Hindernisse und Verschlechterungen auf dem Weg thematisierten.
Auch wenn die Zurückweisung (der Perspektive) der Migrant_innen(verbände) nicht immer so offensiv ausgesprochen wird, so ist sie doch ein grundlegendes Element des derzeitig dominanten Migrations- und Integrationsdiskurses. Eine Analyse dieses Diskurses sowie ein Plädoyer für die Einbeziehung der Perspektive der als ‚Migrant_innen‘ Bezeichneten, das Hinterfragen der Privilegien der Dominanzgesellschaft, das Aushalten von Ambivalenzen und die Analyse von komplexen Machtverhältnissen mit dem Ziel einer nachhaltigen Migrations- und Integrationspolitik sind der Gegenstand dieses Artikels.
Der zur Zeit dominante Migrations- und Integrationsdiskurs suggeriert, dass Migration eine Abweichung von der Norm ist, die durch Migrationspolitik geregelt werden muss, und dass ‚Migrant_innen‘ (bzw. alle Menschen die als solche bezeichnet werden, weil sie als natio-ethno-kulturell Andere konstruiert werden) Probleme in die Gesellschaft tragen, die mittels Integrationspolitik zu beheben sind. Diese Sichtweise negiert den Regelfall der Migration, die es schon immer gab und auch in Zukunft geben wird, und baut auf einer konstruierten Dichotomie zwischen den legitim Zugehörigen und den nicht legitim Zugehörigen auf (vgl. Mecheril 2003).
Die Differenzierung zwischen den ‚Deutschen‘ auf der einen Seite und den ‚Migrant_innen‘, ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘, ‚Ausländer_innen‘, ‚Gastarbeiter_innen‘ (oder was immer der gerade meist gebrauchte Begriff für die Bezeichnung der als natio-ethno-kulturell anders Konstruierten ist) auf der anderen Seite, wird im dominanten Diskurs als eine natürliche, vordiskursive unterstellt. Mit ihr geht einher, dass es als legitim erachtet wird, dass die Einen Rechte haben, die den Anderen vorenthalten werden. Abgesichert wird diese Ungleichbehandlung rechtlich und gesellschaftlich insbesondere durch die Staatsbürgerschaft. Seit der Etablierung der Nationalstaaten ist sie ein zentrales Kriterium dafür, wer legitim dazu gehört und wer ausgeschlossen werden kann (vgl. Mecheril 2003, 147-152 sowie Ha 2007b) . Diese Institutionalisierung der Differenz ist damit eine relativ neue und in Zeiten zunehmender Globalisierung und Stärkung transnationaler Netzwerke eine immer offensichtlicher an ihre Grenzen stoßende.
Differenzierungen zwischen den legitim Zugehörigen und nicht legitim Zugehörigen erfolgten und erfolgen aber auch in Nationalstaaten nie ausschließlich auf Basis der Staatsbürgerschaft. Grundlage für akzeptierte oder verweigerte Zugehörigkeit ist in Deutschland die ausreichende Ähnlichkeit bzw. signifikante Abweichung von dem kollektiv imaginierten Prototyp des ‚Standard-Deutschen‘ (Mecheril 2003, 211-212). In Fortführung (post)kolonialer und insbesondere rassistischer Logik erfolgt diese Einordnung auf Basis von physiognomischen und sozialen Merkmalen, die mit dem Verweis auf bestimmte Regionen außerhalb Deutschlands und mit Festschreibungen über (minderwertige) Dispositionen verbunden werden. So wird ein ‚weißer‘ US-amerikanischer Staatsbürger von vielen Mitgliedern der Dominanzgesellschaft weniger abweichend vom ‚Standard-Deutschen‘ angesehen werden als ein deutscher Staatsbürger, dessen Eltern aus der Türkei zugewandert sind . Eine Schwarze Deutsche macht in ihrem Alltag in Deutschland mehr und existentiellere Erfahrungen der verweigerten Zugehörigkeit als eine ‚weiße‘ Frau, die aus Frankreich zugewandert ist (vgl. Eggers et al. 2005, Ha et al. 2007 und Ferreira 2003).
Dabei erfolgen diese Differenzierungen der als natio-ethno-kulturell anders Konstruierten nicht nur im alltäglichen Umgang sondern auch bei der Formulierung von Gesetzen und Regulierungen. So gelten die von den Migrant_innenverbänden kritisierten Regelungen für den Familiennachzug nicht für alle Länder. Nachziehende US-Amerikaner_innen, Kanadier_innen oder Japaner_innen müssen im Gegensatz zu Türk_innen, Inder_innen oder Senegales_innen nicht nachweisen, dass sie Deutsch können. Außenpolitische Überlegungen verbinden sich hier mit (post)kolonialen Einordnungen der natio-ethno-kulturell anders Konstruierten. Sie sichern bestimmten Menschen Privilegien, während sie andere ausgrenzen. Ähnliches gilt auch für die Einbürgerungspraxis in Deutschland. Der baden-württembergische ‚Muslim-Test‘ , der explizit für muslimische Einbürgerungswillige angefertigt wurde, zeigt, dass nicht für alle Antragsteller_innen die gleichen Regeln gelten. Die öffentlichen Diskurse und die praktische Umsetzung der Regelungen sorgen dafür, dass bestimmten Leuten die Einbürgerung möglichst leicht gemacht wird (z.B. Spitzensportler_innen), während andere vom Antrag möglichst abgeschreckt werden sollen (z.B. HartzIV-Empfänger_innen). Das wiederum führt in der Konsequenz dazu, dass die einen in den Genuss rechtlicher Privilegien kommen, von denen die anderen dauerhaft ferngehalten werden. Gleiches gilt für die Rahmenbedingungen der Ausbildung von Kindern, die z.B. Illegalisierten den Schulbesuch ganz vorenthalten , die Kinder türkischer Migrant_innen in Sonder- und Hauptschulen konzentrieren (vgl. Gomolla und Radtke 2002) und zeitgleich internationale Schulen für bestimmte Kategorien von Kindern fördern .
Differenziert wird zwischen verschiedenen Kategorien von natio-ethno-kulturell anders Konstruierten nicht nur in der Integrationspolitik sondern auch bei der gezielten Steuerung von Arbeitsmigration. So wird spätestens seit der Diskussion um Greencards für IT-Spezialist_innen im Sommer 2000 immer wieder der Bedarf an hochqualifizierten Zuwander_innen artikuliert und die Notwendigkeit thematisiert, im internationalen Wettbewerb um die ‚besten Köpfe‘ zu bestehen. Dabei verlaufen auch die Diskussionen um die Hochqualifizierten sehr ambivalent. Zum einen sind sie erwünscht, weil eine ökonomische Notwendigkeit für ihre Zuwanderung gesehen wird. Zum anderen sind sie desto weniger erwünscht, desto mehr sie sich vom fiktiven ‚Standard-Deutschen‘ unterscheiden. So war die Diskussion im Jahr 2000 schnell von dem Slogan „Kinder statt Inder“ dominiert. Die mögliche Anwerbung von indischen IT-Expert_innen brachte nicht nur das Bild des rückständigen Indiens ins Wanken sondern beschwor auch Bilder von Horden von ‚Fremden‘ auf, die an den Grenzen warten, um Deutschland zu überschwemmen (vgl. Goel 2000). Die Regelungen für die anzuwerbenden IT-Expert_innen wurden dementsprechend abwehrend (und wenig erfolgreich) gestaltet. Aus ähnlicher Logik wurden und werden die Hochqualifizierten unter jenen, die bereits in Deutschland sind (als Asylsuchende, Geduldete, nachziehende Ehepartner_innen oder Hochschulabsolvent_innen), kaum als Ressource für den Arbeitsmarkt gesehen. Jene, die nicht als Hochqualifizierte angeworben wurden, sondern aus eigenen Gründen gekommen sind, stehen unter dem Generalverdacht, dass sie ihren Aufenthalt in Deutschland ausnutzen wollen (es sei denn sie werden als weitgehend mit dem fiktiven ‚Standard-Deutschen‘ vereinbar angesehen). Die dominante Grundeinstellung hierbei ist, dass dies unterbunden werden muss, um andere von der Migration nach Deutschland abzuschrecken. Die Abschreckungswirkung und die Notwendigkeit des Fernhaltens sind dabei so starke Argumente, dass hinter ihnen die Betrachtung des Einzelfalls, wirtschaftliche Überlegungen und auch rechtsstaatliche Normen zurückfallen (vgl. Goel 2006, 128-139). Wirtschaftlicher Nutzen wiederum ist vermutlich der Grund, warum Migrant_innen als Puffer auf dem Arbeitsmarkt (insbesondere in der Landwirtschaft, bei der häuslichen Pflege und auch auf dem Bau) genutzt werden. Sie bekommen eingeschränkte Arbeitsgenehmigungen oder arbeiten im illegalisierten Bereich, verfügen damit kaum oder gar nicht über Rechte und können so zu niedrigen Löhne eingesetzt werden, wenn sie gebraucht werden. Ihre relative bis vollkommene Rechtlosigkeit ermöglicht ihre maximale Ausbeutung und verhindert ihre gleichberechtigte Partizipation in der Gesellschaft.
Widersprüchliche volkswirtschaftliche Argumentationslogiken (so insbesondere der Wettbewerb in der globalisierten Wirtschaft, die Absicherung des Sozialversicherungssystems und die Protektion von Arbeitskräften der Dominanzgesellschaft) sind hier mit (post)kolonialen/ rassistischen Vorstellungen darüber verbunden, wer legitim in Deutschland sein darf. Hieraus ergibt sich eine durch und durch ambivalente Einstellungen zur Zuwanderungspolitik, die sich weder für das eine noch das andere entscheiden kann und nicht zuletzt aufgrund ihrer internen Widersprüchlichkeiten zum Misserfolg bestimmt ist. Wer eigentlich bestimmte ‚Migrant_innen‘ nicht im Land habe möchte, kann sich auch durch volkswirtschaftliche Argumente nicht dazu überreden lassen, diese wirklich willkommen zu heißen.
Diejenigen, die nicht wirklich gewollt sind, aber aus verschiedenen Gründen doch im Land sind, werden durch den dominanten Integrationsdiskurs, wie er sich auch in dem Zitat der Integrationsbeauftragten widerspiegelt, diszipliniert . Ausgenommen von der Forderung der Integration sind all jene, die als nicht besonders vom fiktiven ‚Standard-Deutschen‘ abweichend angesehen werden, sowie jene, denen ein gesicherter Aufenthaltsstatus in Deutschland vorenthalten werden kann. Von ersteren, also insbesondere Migrant_innen aus der alten EU und ‚weiß‘ dominierten ehemaligen Kolonialstaaten wie den USA, wird wie bei den Regelungen zum Ehepartner_innennachzug davon ausgegangen, dass sie so sind wie ‚wir‘ bzw. so sind, wie ‚wir‘ das mögen, und daher auch ohne Integrationsauflagen oder –maßnahmen, in der Gesellschaft angenommen werden. Bei letzteren, also insbesondere Asylsuchenden, Geduldeten und Illegalisierten, ist das explizite Ziel, dass sie sich nicht integrieren sollen, da sie nicht in Deutschland bleiben sollen. Implizit wird so sicher gestellt, dass sie nicht gleiche Rechte einfordern können.
Den Integrationsanforderungen und –disziplinierungen werden jene ausgesetzt, von denen klar ist, dass sie in Deutschland dauerhaft wohnen werden und sie daher Teil der Gesellschaft sind, auch wenn das nicht wirklich gewollt ist. Sie müssen in der Logik des dominanten Diskurses gefordert und gefördert werden, da ihnen unterstellt wird, dass sie nicht ausreichend Wissen über Deutschland haben und dass sie aufgrund der ihnen zugeschriebenen Herkunft nicht die Grundwerte des Grundgesetzes teilen. In einem Umkehrschluss wird dabei suggeriert, dass all jene, die als legitim zugehörig wahrgenommen werden, über mehr Wissen über Deutschland verfügen und so weit die Grundwerte des Grundgesetzes verinnerlicht haben, dass sie den natio-ethno-kulturell anders Konstruierten in dieser Frage überlegen sind. Die Dominanzgesellschaft spricht sich daher das Recht zu, Integration einzufordern, die Regeln und Kriterien dafür aufzustellen und zu kontrollieren.
Da aber der Ausgangspunkt des dominanten Integrationsdiskurses die Überzeugung ist, dass diejenigen mit dem zugeschriebenen Integrationsbedarf sich grundsätzlich von den ‚Deutschen‘ unterscheiden und Integration nur erfolgreich ist, wenn die ‚deutschen‘ Normen und das ‚deutsche‘ Wesen verinnerlicht werden, wird eine erfolgreiche Integration unmöglich gemacht. Der Prozess schreibt diejenigen, die sich integrieren sollen, fortlaufend als natio-ethno-kulturell Andere fest. Das Erfüllen von Integrationskriterien, wie z.B. das Beantragen der deutschen Staatsbürgerschaft, wird mit dem Verdacht, dass dadurch nur die Andersartigkeit verdeckt und gestärkt werden soll, begegnet . Diejenigen, die daran glauben, dass Integration eine Frage der individuellen Anstrengung ist, und sich daher bemühen Integrationsanforderungen zu erfüllen, merken bald die Unmöglichkeit des Erfolges (vgl. Schramkowski 2007). Sie merken, dass sie in einer relativ machtlosen Position sind, in der sie nur auf die Vorgaben reagieren, diese aber nicht mit gestalten können.
In dieser relativen Machtlosigkeit der als natio-ethno-kulturell anders Konstruierten zeigen sich die strukturell verankerten ungleichen Machtverhältnisse in der Gesellschaft. Auch wenn im dominanten Diskurs immer wieder von Gleichheit gesprochen wird und Maßnahmen wie die Integrationsgipfel angeblich auf gleicher Augenhöhe stattfinden, werden durch sie die Ungleichheiten immer weiter festgeschrieben, die Marginalisierungen der einen verstärkt und die Privilegien der anderen gefestigt. Die Zurückweisung der Perspektive der Migrant_innenverbände durch die Integrationsbeauftragte zeigt diese Ungleichheit deutlich an. Die Dominanzgesellschaft gibt die Regeln vor. Die als ‚Migrant_innen‘ Bezeichneten haben nur die Wahl sich ganz darauf einzulassen oder sich komplett zu verweigern. In beiden Fällen können sie nur wenig mit gestalten.
Wenn die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung aller Menschen in Deutschland wirklich politisches Ziel ist und der grundgesetzliche Schutz der Würde des Menschen ernst genommen wird, dann muss Migrations- und Integrationspolitik auf eine andere Basis gestellt werden. Ansätze hierfür werden im Folgenden diskutiert.
Die Integrationsgipfel werden als Gespräche auf gleicher Augenhöhe inszeniert. Dabei gibt der Staat allerdings vor, worüber in welcher Art gesprochen wird und wer als Vertreter_in der als ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ Bezeichneten teilnehmen darf. Vermutlich lassen sich die meisten der Eingeladenen hierauf ein, da es eine der wenigen Möglichkeiten überhaupt ist, sich einzubringen. Als im Vorfeld des zweiten Integrationsgipfels das Zuwanderungsgesetz verschärft und die Kritik der Migrant_innenverbände ignoriert wird, führt das dazu, dass einige den Gipfel boykottieren. Die Konsequenzen dieser Verweigerung tragen aber nicht die staatlichen Akteur_innen, die sie einfach aussitzen und für sich instrumentalisieren können. Es sind die Migrant_innenverbände, die als Folge ihres Boykotts ganz die Möglichkeit verlieren, gehört zu werden. Vor dem dritten Integrationsgipfel beteiligen sie sich vermutlich daher wieder und üben ihre Kritik an der aktuellen Integrationspolitik in ihrer Zwischenbilanz:
„Kritisch beurteilen die Migranten auch die Verschärfung des Zuwanderungsgesetzes, die zum Boykott des zweiten Integrationsgipfels durch die Deutschtürken geführt hatte. Danach müssen ausländische Ehegatten, die einreisen wollen, einfache Deutschkenntnisse nachweisen. Diese Regelung aber gilt nicht für alle Ausländer. "Man spricht über Integration und in der Praxis passiert genau das Gegenteil", sagte Berrin Albpek, Vorsitzende der Föderation Türkischer Elternvereine. Auch den neuen, bundesweit einheitlichen Einbürgerungstest lehnen die Migrantenverbände ab. "Wir betrachten diesen zweckfremden Test als weiteres Hindernis für die Einbürgerung", heißt es in dem Papier.“ (taz, 27.10.08)
Wie bereits gezeigt, wird diese Kritik aber von der Integrationsbeauftragten nicht angenommen. Böhmer macht deutlich, dass sie den Migrant_innenverbänden nicht zuhören wird, wenn diese den von ihr proklamierten Fortschritt in der Integration in Frage stellen. Dabei würde ein Zuhören helfen zu verstehen, weshalb sich viele nicht anerkannt fühlen und es daher zu einer wirklich integrierten Gesellschaft noch weit ist.
Die Migrant_innenverbände weisen darauf hin, dass es nicht nur noch ein langer Weg zur ‚Integration‘ ist, sondern dass es de facto Rückschritte gibt. Hierbei beklagen sie vor allem Verschlechterungen auf gesetzlicher Ebene sowie solche auf institutioneller Ebene in Schule und Ausbildung. Diese Verschlechterungen haben vielfältige Auswirkungen. Ganz konkret geht es um ökonomische Schlechterstellung, verweigerten Bildungserfolg, verweigerte politische Teilhabe, verweigertes Familienleben und einen unsicheren Aufenthaltsstatus. Die Auswirkungen gehen aber hierüber hinaus. Selbst jene, die von den Schlechterstellungen nicht direkt betroffen sind, machen durch die medialen Debatten und die Erfahrungen von Menschen, die sie kennen, vermittelte Ausgrenzungserfahrungen (vgl. Mecheril 2003, 67-71). Ihnen wird deutlich gemacht, dass Menschen wie sie, in Deutschland nur eingeschränkte Rechte haben und dass diese immer weiter beschränkt werden können. Dies verhindert, dass sich Menschen, die als natio-ethno-kulturell anders konstruiert werden, als selbstverständlich zugehörig wahrnehmen und dementsprechend teilhaben können. Insbesondere die gesetzlichen Verschärfungen machen zudem deutlich, dass die staatlichen Akteur_innen widersprüchlich handeln. Auf der einen Seit reden sie von der Gleichheit der Menschen und auf der anderen verankern sie Ungleichheiten immer wieder strukturell. Mit den Konsequenzen müssen die natio-ethno-kulturell anders Konstruierten täglich umgehen, während sie den Mitgliedern der Dominanzgesellschaft nicht auffallen.
So im Fall des Ehegat_innennachzugs: Obwohl Artikel 6 des Grundgesetzes Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates stellt, erfahren Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen dem ‚Standard-Deutschen‘ nicht ausreichend gleichen, immer wieder, dass dieser Schutz nicht uneingeschränkt für sie gilt. Insbesondere wenn eine der Ehepartner_innen nicht in Deutschland lebt, nimmt sich der Staat das Recht, die Grundlagen dieser Ehe zu hinterfragen und sie nicht anzuerkennen. Während bei einer Eheschließung deutscher Staatsbürger_innen nicht gefragt wird, weshalb dieser Schritt unternommen wird (vgl. Spohn 2008, 32), gilt bei Eheschließungen mit einer Partner_in, die durch die Eheschließung ein Aufenthaltsrecht in Deutschland erhalten würde, der Grundverdacht, dass dies der Hauptzweck der Ehe ist und sie daher nicht schutzwürdig sei. Deshalb wurde der Ehepartner_innennachzug auch schon in der Vergangenheit sehr schwer gemacht und das Ehe- und Familienleben der Betroffenen nachhaltig eingeschränkt . Durch die Verschärfung des Zuwanderungsgesetzes wurde der Ehepartner_innennachzug nun noch wesentlich erschwert . Der nun geforderte Nachweis deutscher Sprachkenntnisse soll angeblich Zwangsheiraten mit Frauen aus dem Ausland verhindern und die Integration der Nachziehenden in Deutschland fördern. Ginge es allerdings nur um den Schutz von Frauen vor Zwangsheiraten, dann müsste die Gesetzesverschärfung nicht auch für Männer und für gleichgeschlechtliche Partner_innen gelten, die beide im dominanten Diskurs nicht von Zwangsheiraten bedroht sind. Wäre tatsächlich davon auszugehen, dass ausreichende Sprachkenntnisse eine absolute Notwendigkeit für eine erfolgreiche Integration sei, dann macht es keinen Sinn, Menschen aus einigen Ländern von dieser Regelung auszunehmen. Die fehlende Berücksichtigung des Einzelfalles sowie die Privilegierung bestimmter Staatsbürgerschaften und der unzureichende Schutz für Frauen, die in gewalttätigen Beziehungen in Deutschland leben, lassen viele an den vorgegebenen Begründungen zweifeln. Die Verschärfung des Gesetzes wird daher u.a. von den Migrant_innenverbänden als gezielte Ausgrenzung von bestimmten Herkunftsregionen wahrgenommen und daher auch in der Zwischenbilanz für den Integrationsgipfel kritisiert.
Der andere wesentliche Kritikpunkt richtet sich gegen die Einführung des einheitlichen Einbürgerungstests. Wer sich überlegt, sich einbürgern zu lassen, zeigt damit, dass sie/er sich Deutschland zugehörig fühlt und dies auch auf rechtlicher Ebene festgestellt haben möchte. Aus demokratietheoretischen Überlegungen (vgl. Thränhardt 2008, 13-14) muss zudem der Staat ein Interesse daran haben, dass möglichst die ganze Bevölkerung des Landes politische Rechte hat und partizipieren kann. Ein Staatssystem, dass politische Rechte nicht allen im Staatsgebiet Ansässigen gewährt, sondern diese aufgrund von Abstammung exklusiv vergibt, kann kein wahrlich demokratisches sein. Insofern ist es im Interesse einer Demokratie Einbürgerungen möglichst zu fördern und dazu einzuladen. Die Realität in Deutschland ist aber eine andere. Staatsbürgerschaft war lange über das ius sanguini ausschließlich an Abstammung (Blut) und nicht an den Wohnort gebunden. Einbürgerung war der Ausnahmefall, der möglichst restriktiv gehandhabt worden ist (vgl. Goel 2006, 128-139). Diese Logik bestimmt nach wie vor die Diskurse über Staatsbürgerschaft und die Reglungen der Einbürgerung in Deutschland. Der Einbürgerungswille von ungewollten Antragsteller_innen wird nicht willkommen geheißen, sondern mit Misstrauen und vielen Hürden begegnet. Das ‚Deutschsein‘ im Sinne der deutschen Staatsbürgerschaft wird als ein exklusives Gut verstanden, dass nicht zu freigiebig vergeben werden darf. Daher müssen sich Antragsteller_innen auch erst als würdig erweisen und sich Überprüfungen unterziehen .
Eine Form dieser Überprüfungen sind die neuen Einbürgerungstests, in denen die Antragsteller_innen de facto zeigen müssen, dass sie sich gut auf einen Abfragetest vorbereiten können, symbolisch allerdings zeigen sollen, dass sie über ausreichend Wissen verfügen, um ‚Deutsche‘ zu werden. Unabhängig davon, ob sie dieses Wissen haben, leben die gebürtigen deutschen Staatsbürger_innen und die nicht Eingebürgerten im Land. Das Zusammenleben muss also auch ohne das Wissen organisiert werden. Warum dann ist es für die Einbürgerung wichtig? Aus Sicht derer, die sich potentiell einbürgern lassen würden, ist es vor allem ein Zeichen, dass ihre Einbürgerung nicht erwünscht ist. Generell sind Prüfungen Stresssituationen, die durch die Möglichkeit des Nichtbestehens Angst verursachen können und denen daher eher ausgewichen wird. Für jene, die sich sicher sein können, dass sie die Fragen problemlos beantworten können, ist es zudem eine Entwürdigung, so das eigene Wissen in Frage gestellt und der Überprüfung ausgesetzt zu bekommen. Die Existenz der Einbürgerungstest schränkt so den Willen zur Einbürgerung ein, selbst bei jenen ein, die den Test nicht absolvieren müssten. Die wenigsten Menschen wissen genau, wie die Regelungen aussehen. Was sie aber mitbekommen, sind die öffentlichen Debatten. Sie bekommen mit, dass Tests abgelegt werden müssen und dass in Baden-Württemberg der ‚Muslim-Test‘ eingeführt wurde. Für viele reicht das schon aus, sich nicht weiter zu erkundigen, welche Regelungen für sie genau gelten. Wenn sie nicht gewollt sind, dann wollen auch sie nicht (vgl. Goel 2006, 152-155). Dass eine solche Reaktion vor allem ihnen selbst Rechte vorenthält und die Dominanzgesellschaft wenig stört, ist dabei egal. Dem Staat kann es aber aus demokratietheoretischer Sicht nicht egal sein.
Um möglichst viele Einbürgerungen zu fördern, müsste der Staat erstens alle Hindernisse abbauen und offensiv um die neuen Staatsbürger_innnen werben. Zweitens müsste er anerkennen, dass gerade transnational verankerte Menschen natio-ethno-kulturell (mehrfach-)zugehörig (vgl. Mecheril 2003) sind und die Anforderung, sich für nur eine Staatsbürgerschaft zu entscheiden, nicht mit der Lebenssituation (Mehrfach-)Zugehöriger zu verbinden ist (vgl. Goel 2006). Daher müsste die mehrfache Staatsbürgerschaft als Regelfall anerkannt werden .
Der dritte wesentliche Kritikpunkt der Migrant_innenverbände bezog sich auf die Benachteiligungen in Schule und Ausbildung. Während im dominanten Diskurs, Bildung als der Weg zum Erfolg propagiert wird und Scheitern häufig mit fehlendem Willen zur Bildung und Anstrengung verbunden wird, machen Menschen, die als zu stark vom ‚Standard-Deutschen‘ abweichend angesehen werden, die Erfahrungen, dass weder ihr Erfolg in der Schule noch auf dem Arbeitsmarkt vor allem von ihrem Können und ihrer individuellen Anstrengungen abhängig ist. Jene, die die Bildungsinstitutionen erfolgreich durchlaufen haben, erzählen in der Regel davon, wie sie den Weg ins Gymnasium und auf die Universität gegen die Lehrenden durchsetzen mussten, die ihnen häufig fehlende Sprachkompetenz und unzureichende Unterstützung des Elternhauses unterstellten (vgl. auch Gomolla und Radtke 2002) . Die Schulen wirken hier weniger als Förderer der Kinder als als Orte der Ausgrenzung. Bildungserfolg tritt eher trotz der Schule als aufgrund der Schule ein und ist daher auch vergleichsweise selten. Zudem erfahren jene, die erfolgreich einen Schul- oder Universitätsabschluss erreicht haben, dass dieser Nachweis ihrer Bildung und Bemühungen nicht ausreichend ist, um auf dem Arbeitsmarkt gleiche Chancen wie die Mitglieder der Dominanzgesellschaft zu haben. In der durch Machtungleichheiten strukturierten Gesellschaft reicht Bildungserfolg nicht aus, um an den Ressourcen partizipieren zu können.
Wer wirklich eine integrierte Gesellschaft anstrebt, in der sich möglichst alle zugehörig fühlen und gleichberechtigt politisch, ökonomisch und sozial teilhaben können, muss diese Erfahrungen von Ausgrenzungen ernst nehmen. Sie/Er muss eine Klima herstellen, dass Zugehörigkeit anerkennt, negative Erfahrungen abbaut und alle als gleichberechtigte und selbstbestimmter Mitglieder der Gesellschaft Ernst nimmt. Dabei ist es auch entscheidend, dass die natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit von Menschen, die mit mehreren Regionen der Welt verbunden sind, anerkannt, zugelassen und ermöglicht wird.
Das Ernstnehmen der Position der natio-ethno-kulturell anders Konstruierten ist auch bei der Anwerbung Hochqualifizierter notwendig. Wenn eine solche Zuwanderung wirklich erwünscht ist, dann müssen die Hochqualifizierten sich umworben und willkommen fühlen, ihre Befürchtungen müssen ausgeräumt und ihre Bedürfnisse befriedigt werden. So sind auch Hochqualifizierte nicht nur an hohen Gehältern, guten Arbeitsbedingungen und einem sicheren Aufenthaltstitel interessiert. Sie interessiert es in der Regel auch, ob das Leben für sie einen Freizeitwert haben wird, ob sie sich ohne Gefahr von rassistischen Übergriffen bewegen können und ob ihre Familie und Freund_innen sie problemlos besuchen können (vgl. Spohn 2008, 32).
Um herauszufinden, welche Erfahrungen Menschen, die als natio-ethno-kulturell anders konstruiert werden, in Deutschland machen, wo sie Potentiale und Probleme auf dem Weg zu einer integrierter Gesellschaft sehen, muss die Dominanzgesellschaft ihnen zu hören und ihre Aussagen ernst nehmen, auch dann wenn sie unbequem sind. Dabei sollten die ‚Anderen‘ aber nicht nur als Objekte von Studien verstanden werden, sie sind Expert_innen ihrer eigenen Situation und unter ihnen gibt es auch ausreichend fachliche Expert_innen, die Positionen in Politik, Verwaltung und Wissenschaft übernehmen können. Auch wenn bei ihnen genauso wenig wie bei Mitgliedern der Dominanzgesellschaft die Herkunft Kompetenz garantiert, müssen sie in den Entscheidungsgremien Deutschlands stärker vertreten sein, damit überhaupt ein Raum für ihre spezifische Perspektive geschaffen wird . Da es aufgrund der gegebenen ungleichen Machtverhältnisse bisher schwieriger für jene Menschen, die als abweichend vom fiktiven ‚Standard-Deutschen‘ angesehen werden, ist Machtpositionen in der Gesellschaft zu erreichen als für jene aus der Dominanzgesellschaft, müssen hierfür auch Maßnahmen der gezielten Förderung (z.B. auf der Basis von einem machtkritischen Diversity Mainstreaming ) eingesetzt werden, um die Chancenungleichheiten (aufgrund von z.B. Bildungsbenachteiligungen oder fehlenden Netzwerken) etwas abzubauen.
Das gezielte Fördern von Menschen, die bisher weniger Chancen in der Gesellschaft haben, führt notwendigerweise dazu, dass die Machtverhältnisse verändert und die Mitglieder der Dominanzgesellschaft in ihrer unhinterfragten privilegierten Position irritiert werden. Zu den Privilegien, die in Frage gestellt werden müssen, gehören: das Vertrauen in die Norm(alität), dass einige legitimer weise über mehr Rechte verfügen als die anderen, die Sicherheit, dass alles so bleibt wie es ist, der exklusive Zugang zu Ressourcen und Machtpositionen, der relative Wohlstand gegenüber den weniger Privilegierten, die Definitionsmacht und Kontrollmöglichkeit über die natio-ethno-kulturell als anders Konstruierten sowie auch die Wahlmöglichkeit, ob man sich mit den Ungleichheiten beschäftigt oder nicht. Zu hinterfragen ist auch die (post)koloniale Realität, dass Deutschland ökonomisch und politisch besser gestellt ist, als viele Länder des politischen ‚Südens‘ oder ‚Ostens‘. Was hat der relative Wohlstand mit der (post)kolonialen Weltordnung zu tun? Wie hat Deutschland profitiert und profitiert noch heute von den Ungleichheiten in der Welt? Welche Konsequenzen haben die Antworten hierzu für den Umgang mit Migration und Ungleichheiten, wenn Gleichheit und Gerechtigkeit keine hohlen Phrasen sind?
Diese Fragen und ihre Konsequenzen sind unangenehm, denn die Privilegien, die durch sie erschüttert werden, werden nicht als Privilegien sondern als legitime Norm(alität) angesehen. Es ist schwierig sie zu hinterfragen, denn sie sind durch Wissen(schaft) legitimiert und in Institutionen verankert (vgl. Eggers et al. 2005).
So erscheint es im Fall der Staatsbürgerschaft in Deutschland als völlig normal, dass jede Person nur eine haben kann , sie ein Ausdruck für ungeteilte Loyalität ist und dass es das Recht des Staates ist, sie zu vergeben. Der durch die Staatsbürgerschaft erworbene sichere Aufenthaltsstatus, die an sie gekoppelte Möglichkeit der politischen Teilhabe sowie die durch die deutsche Staatsbürgerschaft ermöglichte weitgehende Reisefreiheit in der Welt, werden von jenen, die durch Geburt deutsche Staatsbürger_innen sind in der Regel als selbstverständlich angesehen und nicht als ein Privileg. Wenige hinterfragen, wie es zusammenpasst, dass Staatsbürgerschaft ein Ausdruck von Loyalität sein soll und doch von den meisten per Geburt unabhängig von jedem Bekenntnis zu Deutschland oder dem Grundgesetz erworben wird. Wenige machen sich klar, dass die Bundesrepublik Deutschland das Staatsbürgerschaftsrecht absichtlich so gestaltet hat, dass der Staat die Staatsbürgerschaft nicht entziehen kann, weil dies während des Nationalsozialismus gezielt gemacht wurde . Die wenigsten fragen sich, wie es begründet sein kann, dass deutsche Staatsbürger_innen viel einfacher international reisen können als die Staatsbürger_innen vieler anderer Länder, und wie dieses Privileg mit der exklusiven Vergabe der deutschen Staatsbürgerschaft verbunden ist. Die wenigsten machen sich klar, dass der eigene sichere Aufenthalt in Deutschland und der relative Wohlstand dort, auch davon abhängt, dass andere weniger Rechte haben und je nach Anforderungen des Arbeitsmarktes ins Land geholt werden oder nicht. Würden deutsche Staatsbürger_innen all diese Privilegien nicht als selbstverständlich sondern als Ergebnis von ungleichen Machtverhältnissen erkennen, dann müssten sie begründen, auf welcher Basis ihnen diese Privilegien ihnen zustehen.
Ähnlich müsste hinterfragt werden, warum es als normal angesehen wird, dass ein Nationalstaat die Zuwanderung begrenzen und ‚Migrant_innen‘ besonders kontrollieren kann, warum es legitim ist bestimmte Menschen unter Generalverdacht zu stellen und sich selber das Recht auf Überprüfung zu geben, wie es z.B. in der Frage des Ehepartner_innennachzugs geschieht. All dies erfolgt im Kontrast zu den Privilegien der Dominanzgesellschaft, unschuldig zu gelten, bis das Gegenteil bewiesen ist, einen sicheren Aufenthaltsstatus zu haben und eine Partnerschaft frei zu gestalten zu können. Die (post)koloniale/ rassistische Unterstellung, dass die andere Frau vor dem anderen Mann geschützt werden muss, legitimiert den Eingriff in das Familienleben der als natio-ethno-kulturell anders Konstruierten und blendet alle Widersprüche, wie z.B. die Restriktion von gleichgeschlechtlichen Partner_innennachzug, aus. Diese Konstruktion der Norm(alität) ermöglicht es, nur jene in das Land zu lassen, die einem genehm sind, und das dann auch noch mit der angeblichen Sorge um Frauenrechte zu begründen.
Auch für den dritten Themenkomplex, die Schule, lässt sich dieses Zusammenspiel von Norm(alitäts)konstruktionen und Privilegien darstellen. Als normal gilt es, durch Bildung und individuelle Anstrengung zum Erfolg zu kommen, sowie die Auffassung, dass ‚Migrant_innen‘ tendenziell ungebildet und bildungsfern sind, sowie ihre Kinder nicht fördern. Die Privilegien, die verteidigt werden müssen, sind, dass die eigenen Kinder in der Schule gefördert werden und durch ihren Bildungserfolg Zugang zu weiteren Ressourcen bekommen. Ausgeblendet wird bei dieser Norm(alitäts)konstruktion, dass der Bildungserfolg in Deutschland viel weniger mit dem individuellen Können und Anstrengungen und viel mehr mit dem gesellschaftlichen Status der Eltern zu tun hat. Durch das Verdecken dieser Ungleichheit, werden die Privilegien der privilegierten Familien gesichert, in dem zum Beispiel ihre Schulen von Problemen frei gehalten werden und einen relativ größeren Anteil an den knappen Bildungsressourcen erhalten.
Rommelspacher (1998, 32) argumentiert, dass sich aus der Norm(alitäts)konstruktion, an die sich alle halten, von selbst eine segregierte Gesellschaft der Privilegierten entwickelt, ohne dass es dafür Apartheidgesetze braucht. So entwickeln sich z.B. Schulen, zu denen Kinder aus marginalisierten Kategorien keinen Zugang haben, oder Wohngebiete, in denen ausschließlich Mitglieder der Dominanzgesellschaft leben, und alle halten dies für normal. Diese Tendenz der Mitglieder der Dominanzgesellschaft, sich abzuschotten, muss aufgebrochen werden, um eine wirklich integrierte Gesellschaft aufzubauen. Dafür ist es notwendig an den nicht thematisierten Privilegien zu rütteln und einzugestehen, dass Integration nicht nur ein Thema der Ausgegrenzten sondern vor allem auch eines der Ausgrenzenden ist.
Die bisher (re)produzierte Dichotomie der Mitglieder der Dominanzgesellschaft auf der einen Seite und der natio-ethno-kulturell anders Konstruierten auf der anderen ist selbstverständlich zu einfach. Beide Kategorien sind Konstruktionen, die nicht unbedingt Selbstbeschreibungen entsprechen, unzulässig homogenisieren und interne Heterogenität negieren. Wie Rommelspacher (1998, 9-38) argumentiert, zeichnen sich Gesellschaften durch das Geflecht unterschiedlicher Machtdimensionen aus. Diese wirken nicht einfach additiv sondern sind miteinander verwoben und interdependent (vgl. auch Walgenbach et al. 2007 sowie Erel et al. 2007) . Die zur Zeit im deutschen Kontext am meisten diskutierten gesellschaftlichen Differenzlinien sind neben jener auf natio-ethno-kultureller Basis jene auf Basis von Gender, Sexualität, Befähigung sowie ökonomischen und sozialen Status.
Alle Menschen einer Gesellschaft sind in diesen unterschiedlichen Machtdimensionen positioniert, sind durch das gesellschaftliche verankerte Wissen über die Norm(alität) der Ungleichheiten geprägt, verfügen über ähnliche Sprachmöglichkeit diese Machtverhältnisse zu beschreiben und sind alle ständig daran beteiligt, diese durch ihr Handeln zu (re)produzieren. So stehen auch Menschen, die vom fiktiven ‚Standard-Deutschen‘ als abweichend angesehen werden, nicht außerhalb der Machtverhältnisse, die diesen Prototyp zur Norm erklären. Auch ihr Denken und Handeln ist von ihm geprägt und sie müssen sich zu ihm verhalten. Daher sind auch ihre Selbstbezeichnungen nicht unabhängig von dieser Imagination des ‚Standard-Deutschen‘ zu verstehen. Auch die natio-ethno-kulturell anders Konstruierten (re)produzieren die dominanten Machtverhältnisse. Zudem sind auch Menschen, die als abweichend vom fiktiven ‚Standard-Deutschen‘ angesehen werden, in die anderen ungleichen Machtverhältnisse einbezogen und (re)produzieren Normvorstellungen zu Gender, Sexualität, Schicht, Befähigung, etc. Marginalisierung in einer Differenzlinie bedeutet nicht das Infragestellen von ungleichen Machtverhältnissen allgemein. So kann auch eine ‚weiße‘ Frau Rassismen (re)produzieren und ein rassifizierter Mann Sexismen .
Aus der Verflechtung der verschiedenen Differenzlinien ergeben sich zudem ambivalente Positionierungen, bei denen nicht gesagt werden kann, dass die eine Person eindeutig in einer machvolleren Position ist als die andere (vgl. Rommelspacher 1998, 26). So ist eine ‚weiße‘ Frau gegenüber einem rassifizierten Mann sowohl in einer privilegierten wie in einer marginalisierten Position. Dies könnte zu einer Koalitionsbildung auf Basis der gemeinsamen Erfahrung von Marginalisierung führen. Die angestrebte Sicherung der eigenen Privilegien und die Illusion innerhalb der ungleichen Struktur aufsteigen zu können, führt allerdings eher zu einer Koalitionsbildung mit den Mächtigen gegen die Marginalisierten (vgl. Haritaworn 2005). Hier ist die (post)koloniale Strategie des Teilens und Herrschens (vgl. Ha 2007a, 31) nachwievor in der Sicherung der hegemonialen Position wirksam.
Es gibt allerdings auch eine systematische Interdependenz von unterschiedlichen Marginalisierungen. So ist Migration in Deutschland vor allem mit sozialer Unterschichtung, prekären Lebensverhältnissen und relativer Armut verbunden. Ein Großteil der staatlich geförderten bzw. geduldeten Migration erfolgte und erfolgt in den wenig qualifizierten bzw. schlecht bezahlten Arbeitsmarkt . Die internationalen Wohlstandsunterschiede werden dazu genutzt, migrierenden Arbeitskräfte in Deutschland zu Bedingungen zu beschäftigen, zu denen Privilegiertere nicht arbeiten würden. Schlechte Bezahlung, unsicherer Aufenthaltsstatus und Ausgrenzungen in verschiedenen Lebensbereichen führen dazu, dass sich eine ethnisierte Unterschicht bildet. Diese lebt häufig konzentriert in Stadtteilen, in denen auch andere materiell Arme wohnen. In einer Privilegien sichernden Interpretation der so entstehenden Realität, lässt sich behaupten, dass ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ arm, ungebildet und kriminell sind und sich segregieren. Soziale Probleme können so von der Dominanzgesellschaft ethnisiert und externalisiert werden.
Externalisiert werden auch Menschenrechtsverletzungen, insbesondere Sexismus und Homophobie. Die Dominanzgesellschaft stellt sich als eine Gesellschaft dar, die die Ideale der französischen Revolution verwirklicht, die die Menschenrechte achtet und durch und durch demokratisch organisiert ist . Im Gegensatz hierzu werden die natio-ethno-kulturell anders Konstruierten als in Traditionen verankert, weniger kultiviert und vordemokratisch konstruiert . Ihnen wird dabei insbesondere zugeschrieben, dass sie sexistisch und homophob sind, und dass daher die Dominanzgesellschaft ihre Frauen und zum Teil auch ihre ‚Homosexuellen‘ retten muss.
So werden die verschärften Regelungen für den Ehepartner_innennachzug vor allem damit begründet, dass sie Zwangsheiraten und die Unterdrückung von Frauen verhindern. Mit dieser Argumentationslinie können gleich mehrere Ziele erreicht werden: zum einen wird der Zuzug von unerwünschten Migrant_innen beschränkt, zum anderen werden die als natio-ethno-kulturell anders Konstruierten kollektiv als minderwertig dargestellt und die eigene moralische Position als überlegen dargestellt. In der Konsequenz wird vielen Menschen das Recht auf frei Partner_innenwahl genommen, Partnerschaften durch Trennung zerstört und das Zusammenleben von gleichgeschlechtlichen Paaren weiter erschwert (vgl. Spohn 2008 sowie iaf informationen 3/2008, 22-25). Ob Frauen durch die Reglungen vor Unterdrückung geschützt werden, ist fraglich, da die sexistischen Strukturen nicht aufgehoben werden. Dass die staatliche Sorge um das Wohlergehen von zuwandernden Frauen nicht besonders groß sein kann, zeigt z.B. die Weigerung ihnen sofort ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zu geben. Hätten sie dieses könnten sie eine gewalttätige Ehe (mit einem Ehemann der Dominanzgesellschaft oder einem anderen) viel leichter verlassen und Schutzangebote in Deutschland annehmen (wenn es diese denn für sie in ausreichendem Umfang gäbe).
Ähnlich verlaufen die Diskussionen über die Einbürgerung, am offensichtlichsten rund um den ‚Muslim-Test‘. Der dominante Diskurs suggeriert, dass den Einbürgerungswilligen im Hinblick auf ihre Einstellungen, insbesondere zur Gleichberechtigung von Frauen, nicht getraut werden kann. Von ihnen wird verlangt, dass sie sich eindeutig und glaubwürdig von Sexismus und Homophobie distanzieren, während jene, die dies überprüfen wollen, permanent die sexistischen und homophoben Strukturen Deutschlands (re)produzieren . Von denen, die sich einbürgern lassen wollen, wird damit viel mehr verlangt als von jenen, die die Staatsbürgerschaft schon mit Geburt erhalten haben. Am real existierenden Sexismus und Homophobie ändert sich dadurch nichts, es werden lediglich mehr Menschen von Rechten ausgeschlossen als im Sinne der Gleichberechtigung aller Menschen wünschenswert wäre. Effektiver wäre es die Menschen auf der einen Seite einzubürgern und zum anderen sie zusammen mit der Dominanzgesellschaft in Prozesse einzubinden, die Sexismus und Homophobie abbauen, sowie Diskriminierungen nicht zu tolerieren.
Im Bereich der Schule wird schließlich unterstellt, dass die ‚Migrant_innen‘ Bildung nicht ausreichend schätzen und damit der fehlende Bildungserfolg ihrer Kinder erklärt. In der Konsequenz wird die unterstellte Bildungsferne (re)produziert und eine soziale und ökonomische Unterschicht produziert. Anstatt den Misserfolg zu ethnisieren wäre es produktiver, die Gründe für den Misserfolg zu analysieren, zwischen strukturellen und individuellen Gründen zu differenzieren und für die verschiedenen Misserfolgsgründe passende Maßnahmen zu entwickeln. Davon würden dann auch andere Kinder, die in der Schule benachteiligt werden, profitieren.
Die Ethnisierung von Armut oder Sexismus und Homophobie führt nicht dazu, dass diese Ungleichheiten in der Gesellschaft behoben werden. Sie führt im Gegensatz dazu, dass die Dominanzgesellschaft sich nicht mit den eigenen Ausgrenzungsmechanismen beschäftigen muss, da diese als Problem der Anderen konstruiert werden. In der Folge werden weder unter den als natio-ethno-kulturell anders Konstruierten noch in der Dominanzgesellschaft Ungleichheiten und Ausgrenzungsmechanismen abgebaut.
Eine nachhaltige Migrations- und Integrationspolitik muss diese Komplexität und Interdependenz verschiedener Differenzlinien sowie die ambivalente Positionierung von Individuen in diesen berücksichtigen und von unzulässigen Homogensierungen absehen.
Wer sich politisch für eine freie, gerechte und solidarische Gesellschaft sowie die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung aller Menschen einsetzen möchte, muss in der Migrations- und Integrationspolitik umsteuern. Die Voraussetzung dafür, dass auch jene Menschen, die als natio-ethno-kulturell anders konstruiert werden, gleichberechtigt und selbstbestimmt an der deutschen Gesellschaft teilhaben können ist, dass ihre Gleichwertigkeit anerkannt wird und ihnen die Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft ermöglicht wird. Dafür ist es notwendig, dass in einem ersten Schritt die real existierenden strukturellen Machtungleichheiten und die Privilegien der Dominanzgesellschaft als Realität anerkannt und thematisiert werden. Hierfür ist es notwendig, jenen, die diese Machtungleichheiten alltäglich aus der weniger privilegierten Position erfahren, zuzuhören, ihre Perspektive ernst zu nehmen, sich darauf einzulassen und offen für Veränderungen zu sein. In einem zweiten Schritt ist es dann erforderlich, daran zu arbeiten, die Machtungleichheiten abzubauen und gleiche Chancen unabhängig von gesellschaftlicher Positionierung herzustellen. Dazu ist es nötig, die weniger Privilegierten gezielt zu fördern und Ressourcen umzuverteilen. Da dies aber mit einem Machtverlust der bisher Privilegierten einhergeht, muss für diesen Prozess der Veränderung mit Verweis auf die Grundwerte der Gesellschaft Zustimmung in der Dominanzgesellschaft geschaffen werden. Schließlich ist wichtig anzuerkennen, dass zwar alle Menschen das gleiche Recht auf Gleichberechtigung und Selbstbestimmung haben, dass dies aber nicht bedeutet, dass sie alle gleich positioniert sind. Für diese Unterschiede muss Raum bleiben, Menschen müssen von der Norm abweichen und Individualität leben können. In Bezug auf Migration muss insbesondere ermöglicht werden natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit zu leben. Konflikte müssen als Teil der Norm(alität) gesehen und so organisiert werden, dass sie gewaltfrei und produktiv ausgetragen werden können.
In Bezug auf den Ehepartner_innennachzug würde eine nachhaltige Migrations- und Integrationspolitik bedeuten, dass die Ehen und Familien von natio-ethno-kulturell anders Konstruierten den gleichen Schutz erhalten müssen wie jene der Dominanzgesellschaft. Es muss die Unschuldsvermutung gelten und das Zusammenleben muss möglichst schnell ermöglicht werden. Gleichzeitig muss dafür gesorgt werden, dass Ehe und Familie weder für als natio-ethno-kulturell anders Konstruierte noch für Mitglieder der Dominanzgesellschaft Orte der Unterdrückung und Gewalt sind. Das erfordert eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Sexismus und häuslicher Gewalt sowie ein flächendeckendes Angebot für Frauen, die sich einer solchen Ehe entziehen wollen. Speziell für ‚Migrant_innen‘ gehört hierzu, dass sie sofort bei Ankunft in Deutschland ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erhalten und so nicht mehr rechtlich von ihrem Ehemann abhängig sind.
Im Falle der Staatsbürgerschaft muss dafür gesorgt werden, dass möglichst die gesamte Wohnbevölkerung Staatsbürger_innen Deutschlands sind, damit sie an Gesellschaft und Politik teilhaben können. Der Staat muss klar machen, dass er alle beteiligen will und sie dazu einladen, sich zu beteiligen. Dafür müssen Hindernisse abgebaut werden. Hierzu zählt z.B. auch, dass der Staat die natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeiten anerkennen muss und ihnen eine mehrfache Staatsbürgerschaft, wie sie in vielen Ländern dieser Welt möglich ist, erlauben muss. Das Ziel, dass möglichst der größte Teil der Bevölkerung mit den Grundsätzen des Grundgesetzes übereinstimmen soll, lässt sich nicht über die restriktive Vergabe der Staatsbürgerschaft regeln, sondern muss eine gemeinsame gesellschaftliche Aufgabe, die sich an alle richtet, sein.
Im Falle der schulischen Bildung muss das Recht auf Bildung für alle umgesetzt werden. Dazu müssen strukturelle Benachteiligungen von bestimmten Bevölkerungsgruppen abgebaut und die knappen Ressourcen nach Bedarf (und nicht nach Status) verteilt werden.
Eine solcherart nachhaltig gestaltete Migrations- und Integrationspolitik ist viel mehr als nur Migrations- und Integrationspolitik. Sie betrifft alle Politikbereiche und erfordert ein machtkritisches Diversity Mainstreaming.