Band II:InderKinder. Über das Aufwachsen und Leben in Deutschland.

Ein virtueller Sammelband im Entstehen (Hrsg. Urmila Goel)

Mohini Gupte

Mein Leben - hier und dort
ALTER: 13, KONFESSION: BI-KULTURELL

erschienen in: Meine Welt 1/2013, 8-9.

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Meine Eltern haben vor circa achtzehn Jahren geheiratet. Eine ganz normale deutsche Hochzeit, da meine Mutter Deutsche ist. Mein Vater ist kein großer Fan von Festen, sonst wäre die Hochzeit etwas anders abgelaufen. Nämlich dreitägig mit riesigem Bankett, aufwendigen und wunderschönen Kleidern, und alle echten und falschen Verwandten wären gekommen. Der Grund: Mein Vater ist Inder, der, seit er studiert, in Europa lebt. Er selbst würde sich vielleicht schon als Deutscher bezeichnen, doch er tickt noch wie ein Inder. Und darauf bin ich stolz, dass ich zwei so unterschiedliche Kulturen kennenlernen durfte und immer noch am Leben bin. Denn das Leben ist nicht leicht, wenn eine Hälfte von sich selbst in einem anderen Land steckt, und man maximal nur einmal im Jahr diese zweite Hälfte von sich selbst - in Indien - besuchen darf, um vollständig zu sein. Doch dann ist die deutsche Hälfte wieder in Deutschland und man ist wieder unvollkommen. Man sehnt sich in Deutschland nach Indien und in Indien sehnt man sich nach Deutschland.

So weit wäre es gar nicht gekommen, wenn ich, wie meine indisch-österreichische Cousine, nur einmal im Jahr nach Indien gefahren wäre, mir einen Bindi auf die Stirn geklebt, einen Sari angezogen und Ferien am Strand gemacht hätte. Doch bei mir lief es anders, dank meinen Eltern. Manchmal weiß ich aber nicht, ob ich ihnen dafür dankbar sein sollte oder eben nicht.

Bis ich sechs Jahre alt war, lebte ich in Köln. Dann ging ich 2005 zusammen mit meinem Vater nach Pune, Indien, um dort eingeschult zu werden. Wir lebten bei meiner Großmutter Aaji und damals noch mit meinem Großvater Dada. Ich bekam ein eigenes Zimmer. Mein Vater hatte eine Stelle an der Universität Pune als Professor, später wurde er Leiter des Instituts. Er hatte sehr viel zu tun und wir bekamen ihn kaum zu sehen. Das war eine Zeit für mich, in der ich kein einziges Wort verstand von dem, was Aaji sagte, da ich ihre Sprache, Marathi, überhaupt nicht verstehen konnte, geschweige denn sprechen. An die Zeit, die danach kam, erinnere ich mich nur vage. Ich weiß nur noch, dass mich meine Eltern in verschiedene Schulen schleppten, um dann doch eine andere auszuwählen: Aksharnandan, eine Schule in der Englisch zweitrangig ist. Das ist etwas sehr Besonderes. In den meisten Schulen in Pune ist Englisch die Hauptsprache, Hindi die erste Fremdsprache und die eigentliche Muttersprache, Marathi, die dritte Fremdsprache. Nicht in dieser Schule; Englisch lernten wir erst ab der dritten Klasse, Marathi und Hindi ab der ersten.

Der erste Tag: Aaji sitzt mit mir zusammen in der ersten Klasse. Es gibt an der Schule keine Parallelklassen, also nur eine erste Klasse. Meine Oma also sitzt auf einem Stuhl hinter mir. Vor mir um die vierzig Schüler und eine Lehrerin. Ich verstehe Bahnhof, aber ich werde in Ruhe gelassen und es passiert nichts weiter, also lasse ich Aaji ruhigen Gewissens nach Hause gehen. Ein Mädchen verfolgt mich auf Schritt und Tritt, sie führt mich zur Toilette, zeigt mir alles. Später verstehe ich ihren Namen und kann ihn mir merken: Mukta. Durch Mukta lerne ich ihre gesamte Clique kennen und wir sind bis heute noch sehr gute Freundinnen. In dieser ersten Zeit verstehe ich wirklich gar nichts. Ich bekomme zwar etwas zusätzlichen Sprachunterricht, aber ich bin irgendwie so blockiert, dass er mir nicht wirklich hilft. Ungefähr sechs Wochen geht das so; ich sitze einfach im Unterricht, sage kein Wort und werde nur manchmal angesprochen. Mit Aaji zu Hause rede ich Deutsch und sie mit mir Marathi. Sie kann zwar selbst nicht Deutsch sprechen, aber sie versteht es ein bisschen und über einen Deutsch-Englisch-Mischmasch verstehen wir uns meistens.

Natürlich gab es immer auch Missverständnisse, aber die waren nicht besonders schlimm. Nach sechs Wochen fing ich auf einmal an, Marathi zu sprechen. Laut Aaji wurde ich von der stillen Maus zu einem überlaufenden Wasserfall. Ich redete wie ein Weltmeister, meinten alle. Ich persönlich kann mich nicht daran erinnern. Meine Mutter kam nach drei Monaten aus Deutschland zu uns und ich übte mit ihr fleißig Deutsch. Einen Monat bevor in Pune die Sommerferien anfingen, flog ich zurück nach Deutschland. Dort wurde ich im April in die erste Klasse einer Grundschule mit sprachlichem Profil aufgenommen. Meine Eltern dachten, dass ich sprachlich begabt sei, weil ich Marathi und Deutsch konnte. Ich war ungefähr drei Monate in der deutschen Schule, dann waren Sommerferien. Ich flog mit meiner Mutter und meinem Vater nach Indien zurück. Von der indischen zweiten Klasse verpasste ich etwas, aber das war nicht weiter schlimm.

Aus der deutschen Klasse konnte ich mir nicht viele Gesichter merken, aber in Indien wurde ich wieder ganz normal aufgenommen und fühlte mich auch wie eine von ihnen, was ich in Deutschland nicht so empfand. Ich war nie so richtig eine von ihnen, wir blieben uns fremd.

Das ging so bis zur dritten Klasse. Drei Monate Deutschland, der Rest Indien. Nur in der dritten, letzten Klasse war ich von Anfang bis Ende in Pune und wir machten dann verlängerte Ferien in Australien, wo wir deutsche Freunde besuchten. Dieser Aufenthalt war sehr wichtig für mich, um mich an all die seelischen und sprachlichen Veränderungen, die mit unserer Rückkehr auf mich zukamen, zu gewöhnen. Besonders in Sachen Deutsch hatte ich sehr viel nachzuholen; ich hatte kein Gefühl dafür, ob es der oder die Tisch heißt.

Eine Beobachtung beschäftigt mich sehr. Es war in der dritten Klasse in Pune. Eine deutsche "Freundin" kam mich für zwei Wochen besuchen. Sie war typisch deutsch: blonde Haare, blaue Augen und an Komfort gewöhnt. Im Nachhinein würde ich sagen, sie und auch ihre Mutter, die mitreiste, waren völlig überfordert mit der Lebenssituation in Indien. Sie wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Aber nach dem Aufenthalt dachten beide, sie würden Indien verstehen und wüssten, was da vor sich geht. Sie irren sich. Nicht einmal ich kann behaupten, ich kenne Indien gut.

Nun ja, ich habe es ins Gymnasium geschafft und bin jetzt in der achten Klasse. Ich bin fast jedes Jahr in den Sommerferien mit meinen Eltern für einen Monat nach Indien gereist und habe bei meiner Großmutter gewohnt. Sie kam oft auch uns in Deutschland besuchen. Ich habe zu ihr ein enges Verhältnis, weil wir uns trotz Missverständnisse und sprachlicher Begrenzungen sehr gut verstehen. Sie weiß bei heiklen Themen immer, was ich meine, auch wenn ich ihr das nicht so sagen kann. Für mich ist sie mehr als nur ein Familienmitglied, da sie mir immer beisteht und da sie mit ähnlichen Situationen Erfahrung hat und mich versteht. Wenn ich meine deutsche mit meiner indischen Oma vergleiche, merke ich, dass ich zu Aaji ein innigeres Verhältnis habe. Das muss nicht heißen, dass ich sie mehr mag als meine deutsche Oma, im Gegenteil. Wenn man sich zu gut kennt, geht man sich manchmal gerade auf die Nerven. Ich glaube, die Nähe zu Aaji hat etwas damit zu tun, dass man in Indien immer kleine oder größere "Prüfungen" bestehen muss. Da muss man sich zusammentun und gemeinsam nach Lösungen suchen. Das schweißt die Familie zusammen. In Deutschland dagegen läuft alles so reibungslos und ohne Probleme, dass man sich erstens langweilt und zweitens nicht so viel zusammen macht, dass man sich gegenseitig bräuchte.

Ich bin so glücklich, seitdem ich weiß, dass ich dem deutschen Alltag für zwei Monate entfliehen und als Austauschschülerin nach Indien gehen kann. Ich werde bei Aaji wohnen und wie ein gewöhnliches indisches Mädchen zur Schule gehen. Und da es ja ein Austausch ist, wird auch eine Freundin von mir für einen Monat nach Dresden kommen. Ich freue mich sehr auf die Zeit, wenn der laaaaangweilige Unterricht eines laaaaangweiligen Gymnasiums aufgemischt wird. Ich denke zwar, dass sie sehr schüchtern sein wird, aber ein bisschen indisches Feeling kommt sicher doch durch.

Als ich letztes Jahr in Pune war, war ich wie verändert. Ich hatte total vergessen, wie es dort ist. Der Lärm, die Märkte, selbst von dem Gestank konnte ich nicht genug haben. In Indien weiß man wieder, was es heißt, lebendig zu sein. Und manchmal muss man sich auch Krankheiten und Tod ansehen, um zu spüren, dass man noch lebt. Wenn sonntagmorgens die "Bhajiwali" auf der Straße ihre Ware anpreist und ruft, dann spürt man das Leben. Dafür muss man auch manchmal negative Gefühle zulassen. Im Gegensatz dazu ist es in Deutschland so, dass man nie seine Bahn verpasst, immer pünktlich kommt, sich nie irgendwie verschwitzt oder so fühlt. Alles erscheint irgendwie sauber und perfekt. Und dadurch wird alles so langweilig. Man regt sich über Dinge auf, die total unwichtig sind. Natürlich ist es auch sehr gut pünktlich zu sein. Das "schlimmste" Mal, dass ich zu spät kam, handelte es sich nur um 13!!! Minuten. In Indien zerfällt der Tag nicht in Minuten. Meine Verspätung wäre eine Lappalie, zu belanglos, um überhaupt erwähnt zu werden.

Ganz am Anfang schrieb ich, dass es nicht so leicht sei, als Mischling am Leben zu bleiben. Okay, das ist vielleicht ein bisschen überzogen, aber es gibt drei triftige Gründe dafür:

  1. Man fliegt so oft zwischen zwei Welten, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass einem irgendwann einmal ein Unglück zustößt.
  2. In Deutschland passiert es nicht selten, dass Ausländer von Neonazis angemacht oder verprügelt werden; genauso wie in Pune plötzlich die "German Bakery" hoch gehen kann.
  3. Man ist oft in sehr emotionalen Situationen, in denen man sich mal schnell eben über eine Brücke stürzen könnte.

Insofern weiß ich manchmal nicht, ob es ein schlechtes oder gutes Schicksal ist. Himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt.

veröffentlicht auf: www.urmila.de/inderkinder, 2013