Heidelberg: Draupadi Verlag, 220 Seiten, 2012, 19,80 €
ISBN 978-3-937603-73-5
in: Meine Welt, Januar 2013.
Als ich „InderKinder – Über das Aufwachsen in Deutschland“ zum ersten Mal in die Hand nahm und es zu lesen begann, fiel es mir schwer es wieder aus der Hand zu legen. Zu selten sind solche Erzählungen der jungen Menschen, die von ihren Erfahrungen in ihrem bisherigen Leben in und um Deutschland berichteten, zu essentiell die Betrachtungen der wissenschaftlichen Essays, die diese Reflektionen wie eine Spiegelhalle umgeben. Zu selten gibt es jene Einschreibungen in die Zeit. Einschreibungen, die das Leben der Menschen beschreiben, die sich nun schon seit einigen Jahrzehnten in stetigen Aushandlungsprozessen ihre Zugehörigkeit zu benennen befinden, sei es auf Basis der Zuschreibung zu einem kulturellen Raum oder auf dem kreativen Potenzial der Schaffung einer neuen Sphäre. Eine solche Plattform für Stimmen junger Menschen mit indischer Herkunft ist keine Selbstverständlichkeit und das ist, was dieses Buch so wertvoll macht. Alle Beiträge in diesem Band verweisen auf eine spezielle Dynamik unserer heutigen Zeit innerhalb der deutschen Gesellschaft (ebenso wie in einem globaleren Rahmen natürlich auch): Eine Dynamik, deren Betrachtung zentrale Fragestellungen aufwirft: Ist ein multikulturelles Leben in dieser Gesellschaft möglich? Wenn ja, wie äußert sich ihr gelebt werden? Verbunden mit diesen Fragen ist das Verständnis um die Alltäglichkeit einer multikulturellen Qualität einer Gesellschaft und ihren Bürgern, ohne diese zu bloßen Hohlräumen hegemonialer Vorstellungen und ihrer Implikationen zu machen. Die Schaffung einer Austauschplattform, wie sie dieses Buch vollzieht jedoch, und ebenso jegliche Ideen und Diskurse, die aus dieser entstehen, ist ein Schritt in Richtung einer solchen natürlichen Wahrnehmung.
„InderKinder – Über das Aufwachsen und Leben in Deutschland“ besteht aus autobiografischen, biografisch-dialektischen und wissenschaftlichen Beiträgen, die eine Vielfalt von Facetten rund um das Leben in Deutschland als Bürger vollständiger oder teilweiser südasiatischer Herkunft und einhergehende Fragestellungen, Konflikte, Wünsche und Lösungsstrategien beleuchten. Dabei werden Lebenswelten einzelner Personen in Verknüpfung zu öffentlichen Aushandlungen einer solchen Biografie dargestellt und in größere Kontexte eingebettet, ohne ihnen ihre Qualität als Beschreibungen von Wirklichkeit zu nehmen. Da ist die Erzählung von Betty Cherian, die bereits im Titel ihres autobiografischen Beitrags eine klare Grenze zieht: „Woher kommst du? Köln! Meine Eltern sind ursprünglich aus Indien.“ Die wenigsten jungen Menschen einer solchen Biografie, die in Deutschland aufgewachsen sind, fühlen sich hier fremd, werden oft jedoch als solche wahrgenommen. Dieses Buch bietet einen guten Einblick in die Erfahrungs- und Gefühlswelten, die hinter einer solchen Begegnung stehen. Wir erfahren von Nicole Karuvallil, die bewusst versucht, sich innerhalb beider kultureller Räume zu verorten- nicht zwischen. Eine interessante Perspektive, die darauf verweist, dass es ein dazwischen gar nicht geben kann, sondern nur ein miteinander. Die Autoren der autobiografischen Erzählungen von Problematiken dessen, sich in diesen beiden Räumen zu bewegen, über erste Begegnungen der Verfremdung und Nähe (siehe: Dipteesh Banerjee und Nisa-Punnamparambil Wolf), die Kunst sich das kulturelle Wissen beider Welten anzueignen und zu verwenden (siehe: Simon Chaudhuri und Nicole Karuvallil) und dem Entdecken neuer Aspekte seiner eigenen Herkunft, Persönlichkeit oder Identität (siehe: Daniela Singhal).
Besonders ansprechend finde ich die im Buch dargestellten Gespräche zwischen Personen, da diese auf eine sehr direkte Art wiedergeben, wie konkrete Situationen erlebt wurden. Die direkten Fragen des Gesprächspartners führen die Gedanken jeweils spannend fort. Das Gespräch zwischen Harpreet Cholia und Sherry Kizhukandayil zeigt uns auf, dass die Erfahrungen, die in diesem Kontext gemacht werden, spezifische sind und dass es über nationale Grenzen hinweg, den Nährboden für völlig andere Erfahrungen gibt. Als Mensch mit indischer Herkunft geboren zu werden, hat in England (dem Land, in dem Harpreet lebt) eine völlig andere Bedeutung als in Deutschland. Personen hier und dort sehen sich mit unterschiedlichen Umgehensweisen mit dem Thema der Migration konfrontiert und auch die Erfahrungen der Mehrheitsgesellschaft mit Menschen anderer Herkunft spielt eine entscheidende Rolle in der Gestaltung eines gesellschaftlichen Alltags. Dipteesh Banerjee illustriert in seiner autobiografischen Erzählung von einer solchen Erfahrung. Die deutsche Gesellschaft sei, weder auf der Ebene der einzelnen Akteure, noch auf der makrostrukturellen Ebene institutioneller Organisation, bereit eine Multikulturalität zu leben. Seine „wütende Stimme“ betitelt diesen Missstand als die „Multi-Kulti Lüge“, legt im nächsten Schritt die Konsequenzen einer solchen Lüge an Hand seiner eigenen Erfahrungen offen und formuliert einen Protest- den Wunsch- diesen mit dem Motor des politischen und künstlerischen Aktionismus zu bekämpfen. Künstlerisch-philosophisch ist auch der Beitrag des Künstlers Axaram, der fragmenthaft und doch innig die Frage nach der Relation von Herkunft, Sein und Werden formuliert. Verbildlichung seiner Ausführungen ist das Foto, das das Deckblatt des Buches schmückt. Ein Foto, das auf unterschiedliche Aspekte dieser großen Verortung von Personen in Zeit und Raum illustriert. Wie transkulturelle Erfahrung als intellektuelle Ressource im akademischen Rahmen genutzt werden kann, zeigen uns diverse Beiträge in diesem Buch. Viele der Autoren haben sich ebenso auf einer analytisch- wissenschaftlichen Ebene mit dieser Thematik auseinandergesetzt, eine unabdingbare Notwendigkeit für die Formung einer kritischen Stimme innerhalb der deutschen akademischen Landschaft, die aus solchen Erfahrungen schöpfen kann. Die Essayisten beschäftigen sich auf unterschiedlichen Ebenen mit den impliziten und expliziten Fragestellungen dieser Erfahrungen. Ihre Ausführungen bieten den größeren analytischen Rahmen, innerhalb dessen die Erfahrungen junger Menschen anderer Herkunft als der deutschen von den hegemonialen Strukturen der Mehrheitsgesellschaft, klassifiziert, positioniert und identifiziert werden. Ein jeder Essay betont dabei einen anderen Aspekt. Neben der Darstellung des generellen Gesellschaftlichen Rahmens, innerhalb dessen eine solche Erfahrungswelt gelebt werden kann (siehe Paul Mecheril und Pia Skariah Thottamannil), werden ebenso individuelle Parameter erläutert (siehe Rohit Jain und Shobna Nijhawan). Viele Aspekte der wissenschaftlichen Essays sind von Bedeutung und inspirierend für weitere Überlegungen- eine detaillierte Darstellung dieser würde jedoch den hiesigen Rahmen sprengen. Die normative Frage nach einer kritischen Position, die ein jeder von uns einnehmen könnte, findet auf unterschiedlichen Ebenen Gehör: Auf einer akademisch-intellektuellen, einer künstlerischen und einer rein individuellen, nicht öffentlichen. Zusammen formen sie in jedem Fall eine politische Position ein: Wie können wir mit einem Wissen um die Beschaffenheit der heutigen Gesellschaft umgehen? Vor allem in den Essays von Nivedita Prasad und Pia Skariah Thottamannil werden Positionen, die aus einem Wissen um eine solche Beschaffenheit entstanden sind, beschrieben. Pia tut dies, indem sie mit polemischer Qualität immer wieder auf die Perspektive des „weißen Deutschen“ verweist; Nivedita Prasad indem sie sich ihre eigene Position in einem ebenso hierarchisierten Raum erkämpft, der selbst gegen eine anders geartete Form der Hierarchisierung angeht. Beide Beispiele zeigen, wie eine solche kritische Auseinandersetzung aussehen, vor Allem jedoch eine politische Aktivität kanalisiert und durch die eigene Person gelebt werden kann.
Vergleiche ich meine eigenen Begegnungen mit anderen Menschen ähnlicher biografischer Voraussetzungen mit den Beiträgen in diesem Buch- seien es die autobiografischen, die autobiografisch-wissenschaftlichen, oder die wissenschaftlichen- so merke ich, dass mir ein Aspekt immer wieder in den Sinn kommt. Ein Aspekt, der mir zentral erscheint, jedoch nur wenig behandelt wird: Die Frage nach den unterschiedlichen Sphären innerhalb derer sich Akteure mit einer anderen Herkunft als der deutschen bewegen ist auch eine Frage um ihre jeweiligen Eigenschaften und Qualitäten. Urmila Goel weist in ihrem überleitenden Essay darauf hin, dass es eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen mit einer solchen Verortung ist, die hier zu Wort kommen. Das sehe ich genauso. Ich würde noch weiter gehen und sagen, auf Grund bestimmter Parameter wie sozialen Status, Bildung und Aushandlung der eigenen Identität, sind diese Stimmen des Zentrums. Zwar gibt es keine als tatsächlich geschlossene Einheit wahrgenommene diasporale Gemeinschaft, jedoch nimmt sie meiner Meinung nach hier und da die Qualitäten-sprich die Eigenschaften- einer solchen an. Innerhalb einer solchen Gemeinschaft, die teils aus Eigenzuschreibung, teils aus Prozessen des „Otherings“ entsteht, gibt es ebenso Strukturen der Peripherie und der Zentralität. Alle Ebenen zeichnen sich durch Heterogenität aus, doch impliziert der Gedanke der Peripherie bestimmte Voraussetzungen für den Zugang zu einem öffentlichen Diskurs. Während das Zentrum in diesen Beiträgen eine Sprache findet, sind die Akteure der Peripherie, diejenigen, die im Hintergrund bleiben. Es sind diejenigen, deren Leben von der Frage um Verortung geprägt, eher konfliktreich und dramatisch abläuft, deren Lebensentwurf weniger Kohärenz enthält. Menschen, für die eine Aushandlung mit Prozessen sozialer Sanktion und unterschiedlichen Problemen in der Findung ihrer Identität und Zuordnung verbunden ist. Ihre Stimmen sind (noch) ungehört. Meiner Meinung nach sind dies Stimmen von Subalternen in der Gruppe der Personen anderer Herkunft als der deutschen, oder in diesem Falle, innerhalb der Gruppe der Personen mit indischer Herkunft. Sie bleiben stumm, solange sie mit den negativen Erfahrungen der sozialen Sanktionen das Private und Intime vorziehen. In meinem Leben sind mir einige solcher Menschen begegnet, mal laut, mal leise. Mal offen ablesbar, mal im Verborgenen gelebt und nach außen hin mit Perfektion dekoriert. Mal wird mit harter Offenheit darüber gesprochen, mal gekonnt gelogen. Der jeweilige Kontext innerhalb dessen die jeweilige Erfahrung stattgefunden hat ist eben nicht nur innerhalb eines überregionalen Rahmens wichtig, sondern ebenso innerhalb der Struktur einer (evtl. imaginierten) Gemeinschaft. So sind die Autoren der einzelnen Beiträge alle Akademiker und stammen aus Familien, denen der Zugang zu Bildung einfach möglich ist. Marginalisierung war eher im Kontext der deutschen Gesellschaft ein Thema, jedoch niemals innerhalb der Gemeinschaft, die sich im deutschen Raum aus den Personen indischer Herkunft heraus gebildet hat. Diese Prozesse sind jedoch nicht selten und prägen das Selbstbild dieser Personen, die eher in einer Peripherie (auf Basis ihrer Lebenswege und Zuordnungen) verortet werden. Dies ist den Herausgebern des Buches durchaus bewusst, doch ging es mir nur darum, an dieser Stelle nochmals darauf zu verweisen. Urmila Goel verweist in ihrem überleitenden Essay auf diesen Umstand und ruft dazu auf, die Beiträge zu erweitern, indem man sich auf ihrer Homepage mit einem eigenen Beitrag einbringen kann.
Meine eigenen Erfahrungen sind von unterschiedlicher Qualität, sie sind jedoch geprägt von meinem intellektuellen Bedürfnis, mich mit beiden kulturellen Räumen auseinanderzusetzen. Aber natürlich lässt sich dieses Bedürfnis nicht von den konkreten Situationen, in denen man sich innerhalb dieser bewegt, abgrenzen. Aufgewachsen in einer konservativen und wenig flexiblen diasporalen Gemeinschaft in Bielefeld, sind mir soziale Sanktionen nicht fremd, auf der anderen Seite ebenso die Empfindungen, die über Prozesse der Ausgrenzung oder Integration im deutschen Raum stattfinden. Zwischen all diesen Erfahrungen fühle ich mich jedoch in erster Linie als Mensch, der sich in einer globalen Sphäre bewegt. Meine eigene Herkunft soll mich begleiten und jede weitere Begegnung als Nährboden für die Definierung dieses „Mensch-seins“ dienen.
„InderKinder- Über das Aufwachsen in Deutschland“ ist ein Buch, das einlädt zu schmunzeln, zu grübeln, sich zu erinnern, den ein oder anderen politischen Aktionismus zu leben, aber vor allem sich zu beteiligen: An einem großen Entwurf der Darstellung völlig unterschiedlichen Menschen die hier in Deutschland leben. Ein Entwurf, der eben durch diesen Beitrag eine klarere Kontur bekommt und dazu beiträgt, das abstrakte und vorurteilsbehaftete Bild des „Deutschen mit Migrationshintergund“ in ein menschliches und dynamisches zu verwandeln.
Jana Koshy, Indologin, studiert Enthnologie an der Universität Köln.