Gliederung:
Zur Vereinigung Deutschlands und der Entwicklung in Ostdeutschland gibt es zahlreiche Studien. Diese kommen zu unterschiedlichen Einschätzungen darüber, wie erfolgreich der bisherige Prozess war und wie, zum Beispiel, die wirtschaftliche Lage in Ostdeutschland zu bewerten sei. Aber unabhängig davon, wie die Situation im Osten von den Wissenschaftler_innen eingeschätzt wird, bleibt der Eindruck, dass sich ein großer Teil der Menschen in Ostdeutschland als Bürger_innen zweiter Klasse fühlen. Auch hierfür gibt es wieder unterschiedliche Erklärungsansätze. Zentral dabei scheint, dass viele Menschen in Ostdeutschland sich und ihre Biographien im vereinigten Deutschland nicht ausreichend anerkannt fühlen.
Die fehlende Anerkennung ist – meiner Analyse nach – jene, die von Menschen in Westdeutschland und insbesondere von Politik und Medien, die von im Westen sozialisierten Menschen dominiert werden, kommen müsste. Es wäre daher zu analysieren, wieso im Westen Sozialisierte den im Osten Sozialisierten die Anerkennung verweigern – und ihnen wie im Falle der abgelehnten Bewerbung auch den Zugang zu Ressourcen verweigern. Ein systematischer Blick auf die westsozialisierten Menschen scheint allerdings in den meisten Studien über die Probleme des Vereinigungsprozesses zu fehlen. Die Diskussionen drehen sich in der Regel um die abweichenden Anderen (Ostdeutschland), während das dominante System und seine Vertreter_innen (Westdeutschland) als überlegen und an den Problemen unbeteiligt imaginiert werden. Es bleibt abzuwarten, ob das laufende Verfahren vor dem Arbeitsgericht hier eine Änderung bewirken wird.
Fünfzehn Jahre nach dem Fall der Mauer zog ich nach Ostberlin und lehrte an einer ostdeutschen Universität. Ich bekam mehr Kontakt mit im Osten sozialisierten Menschen und begann meine eigenen Privilegien als westdeutsch Sozialisierte im vereinigten Deutschland wahrzunehmen. Dies ist der Ausgangspunkt für diesen Artikel.
In diesem Artikel will ich die ungleiche Positionierung von im Westen sozialisierten und im Osten sozialisierten Menschen darstellen und problematisieren. Damit (re)produziere und betone ich unweigerlich diese Dichotomie und ringe dabei immer wieder mit Begriffen. Ich benutze in Anlehnung an den zurzeit dominanten Gebrauch der Begriffe in Deutschland Westen für die Gebiete, die bis zum Fall der Mauer Teil der BRD und West-Berlin waren. Mit Osten bezeichne ich die Gebiete, die Teil der DDR waren. Ich spreche von im Westen oder Osten sozialisierten Menschen, um ihre Positionierung und nicht ein fiktives essentielles Sein zu betonen.
Dieses theoretische und methodische Vorgehen der Dekonstruktion von als normal Angesehenem nutze ich im Folgenden, um das Verhältnis von im Osten und Westen Deutschlands Sozialisierten zueinander zu analysieren.
Bis zur Vereinigung war es in der BRD völlig klar, dass die Begriffe BRD und Deutschland als synonym verwandt wurden. Um genau zu sein, wurde im allgemeinen (nicht offiziellen) Sprachgebrauch eigentlich nur von Deutschland gesprochen. Die Abkürzung BRD war keine, die in Westdeutschland eine weite Verbreitung gefunden hätte und auch der Zusatz West war kein notwendiger. Dass Westdeutschland für Deutschland steht war klar. So war es auch völlig klar, dass die deutsche Fußballmannschaft in der BRD zusammengestellt wurde. Es war klar, dass Menschen aus Westdeutschland auf Reisen im Ausland sagten, sie kämen aus Deutschland. Meist wurden sie dabei so verstanden, wie sie es auch gemeint hatten. Westdeutschland war die Normannahme, die nicht weiter zu benennen war. Wenn es um die DDR ging, dann musste das explizit gesagt werden. Die Mannschaft der DDR hätte nie die deutsche sein können – zumindest nicht aus der Perspektive der ‚westlichen‘ Welt.
Dabei war es für die meisten Menschen in Westdeutschland auch klar, dass das Gebiet, das die DDR umfasst, auch zu Deutschland gehört. In Westdeutschland war es lange verpönt von der DDR zu sprechen. Stattdessen wurde die Abkürzung SBZ (Sowjetische Besatzungszone) benutzt, um zu betonen, dass dieser Staat nicht anerkannt wird und dass er widerrechtlich von der BRD abgetrennt wurde. Die Bürger_innen der DDR hatten ein Anrecht auf die bundesdeutsche Staatsangehörigkeit und das Grundgesetz der BRD formulierte in Artikel 23: „In anderen Teilen Deutschlands ist es [das Grundgesetz, ug] nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.“ Die bundesdeutschen Gesetzgeber_innen hatten sich selbst also schon im Grundgesetz die Regelungsgewalt über den Osten Deutschlands gegeben. Die Vereinigung erfolgte dann auch auf Grundlage dieses Artikels, womit Ostdeutschland quasi Teil Westdeutschlands wurde. Dieses Hinzukommen zu etwas Bestehendem setzt sich bis heute sprachlich in der Bezeichnung ‚neue Bundesländer‘ für das Gebiet der ehemaligen DDR fort.
Auch wenn durch den Beitritt das Gebiet der ehemaligen DDR 1990 Teil der BRD und damit Deutschlands im Sinne des Grundgesetzes wurde, werden auch nach der Vereinigung die Begriffe Deutschland und Westdeutschland weiter als Synonyme verwandt. Geht es um den Zeitraum zwischen 1949 und 1989, dann verweist auch heute noch der Begriff Deutschland in der Regel auf die damalige BRD, so wie in meinem Zitat zum Pflegenotstand. Nur wenige hinterfragen das und überlegen, ob die getroffene Behauptung denn tatsächlich für das ganze Gebiet, das heute als Deutschland gilt, zutraf. So lernen Studierende in einer Vorlesung über die Migration nach Deutschland an meiner Universität, die auf dem Gebiet der ehemaligen DDR liegt, alles über die Migration in die BRD. Jene in die DDR wird weder von der Dozent_in noch von den Studierenden erwähnt und die Lücke auch nicht thematisiert. In Wissensspielen werden Kenntnisse über Ereignisse in Westdeutschland vor dem Fall der Mauer abgefragt (zum Beispiel in den Bereichen Entertainment, Sport oder Politik) und diese als gesamtdeutsches Wissen imaginiert. Fragen über Ereignisse in der DDR werden so gut wie nie gestellt und wenn dann nur aus einer westdeutschen Perspektive heraus. Die Geschichte Deutschlands wird meist als die Geschichte der BRD und ihrer Vorgängerinnen gedacht. Die Geschichte der DDR wird wenn überhaupt dann als weniger relevanter Sonderfall angesehen, meistens aber ganz ignoriert.
Auch wenn über das vereinigte Deutschland die Rede ist, geht es in der Regel um Westdeutschland. In frauenpolitischen Diskussionen wird über das deutsche Modell der Versorgerehe gesprochen und kaum beachtet, dass im Osten Deutschlands die Berufstätigkeit von Frauen und Müttern die Norm war und immer noch als solche angesehen wird. In der Diskussion darüber, ob für Unter-Dreijährige eine Kinderbetreuung eingerichtet werden soll, wird davon ausgegangen, dass die westdeutsche Norm, dass die Kinder von ihren nicht-berufstätigen Müttern versorgt werden, die allgemeine deutsche Norm ist. Nicht sie scheint erklärungsbedürftig, sondern die abweichende Norm in Ostdeutschland, wo auch noch heute eine umfassendere Kinderbetreuung angeboten wird als im Westen. Die politisch diskutierte Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf bezieht sich auf den westdeutschen nicht auf ostdeutschen Kontext.
Gerade in Bereichen wie der Kinderbetreuung könnten Erfahrungen aus dem Osten für die Weiterentwicklung der Situation im Westen produktiv genutzt werden. Aber es besteht wenig Bereitschaft von im Westen Sozialisierten, die ostdeutsche Geschichte als Anregung für heutige Regelungen anzusehen. Das dominante westdeutsche Bild von der DDR ist sehr eindimensional. Da es das konkurrierende und verabscheute politische System war und da dort Menschenrechtsverletzungen begangen wurden, wird alles, was mit der DDR in Verbindung gebracht wird, pauschal abgelehnt.
Ostdeutschland ist heute nur dann Teil der Vorstellung von Deutschland, wenn es sich nahtlos in die westdeutsche Kontinuität einpasst. Alles was davon abweicht, wird entweder gar nicht oder als Abweichung, aber nicht als Teil der deutschen Komplexität wahrgenommen.
In dieser Kontinuität ihrer Lebensumstände unterscheiden sich die in Westdeutschland Sozialisierten grundlegend von jenen im Osten Sozialisierten. Für die letzteren hat sich das meiste im Leben geändert. Dinge, die für selbstverständlich gehalten wurden, sind es nicht mehr. Lebensplanungen wurden über den Haufen geworfen. Völlig neue Möglichkeiten und Unmöglichkeiten haben sich ergeben. Viele DDR-Bürger_innen haben mehr oder weniger aktiv dafür gekämpft, dass sich etwas in ihrem Land ändert. Sie sind auf die Straße gegangen und haben das System zu Fall gebracht (und nicht der Kanzler der BRD Helmut Kohl, der von vielen als Kanzler der Einheit gefeiert wird). Sie haben sich für mehr Freiheiten, für Demokratie, für die Möglichkeit zu Reisen und zu Konsumieren und für vieles mehr eingesetzt. Die meisten wollen vermutlich auf die erkämpften Freiheiten auch nicht mehr verzichten. Aber gleichzeitig ist es eine große Herausforderung, mit dem völligen Bruch im Leben umzugehen. Sie mussten sich in einem neuen System zurechtfinden, die neuen Selbstverständlichkeiten lernen, ihr individuelles Leben auf die neuen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten ausrichten. Einige sind damit sehr souverän umgegangen, andere sind daran mehr oder weniger gescheitert (wofür der Begriff Wendeverlierer_innen geprägt wurde). Keine und keiner aber konnte so weitermachen wie vorher.
Von verschiedenen im Osten Sozialisierten wird für diesen Umbruch das Bild der Migration ohne Wanderung benutzt. Die im Osten Sozialisierten migrierten mehr oder weniger freiwillig und mehr oder weniger bewusst in die BRD. Wie andere Migrant_innen ließen sie ein ihnen vertrautes System zurück und mussten sich in einem neuen zurechtfinden. Wie andere Migrant_innen auch wurden sie in dem Land, in das sie migrierten, als Andere wahrgenommen, die sich an das System anpassen müssen. Zudem mussten sie wie viele andere Migrant_innen aus den Ländern des globalen Südens und den Ländern des ehemaligen Ostblocks feststellen, dass ihre Sozialisation, ihre Werte und ihre Geschichte von den Menschen aus dem Westen nicht gewürdigt werden. Das was sie bisher gemacht hatten, das an das sie bisher geglaubt hatten und das wonach sie gestrebt hatten, wurde weitgehend entwertet von denen, die im vereinten Deutschland die Normen (re)produzieren.
Das Ausmaß der Veränderung in den Leben der im Osten Sozialisierten durch die Vereinigung ist den meisten im Westen Sozialisierten wohl kaum bewusst und noch weniger nachvollziehbar. Aus ihrer eigenen Stabilität und Sicherheit sehen wenige, was die im Osten Sozialisierten individuell leisten mussten und noch leisten. Anstatt das Vollbrachte und die Herausforderungen anzuerkennen, wird vor allem auf das (noch) nicht Geschaffte und die angebliche fehlende Dankbarkeit geschaut. Aus dem Privileg der Kontinuität heraus lässt sich leicht und scheinbar zu Recht auf die herunter schauen, die nicht schnell genug (und in der für richtig gehaltenen Form) mit den Veränderungen zurechtkommen.
In all diesen Fällen werden real existierende Probleme im Osten Deutschlands beschrieben. Gleichzeitig entsteht allerdings der Eindruck, dass diese Probleme nur im Osten bestehen und der Westen davon frei sei. Dabei gibt es auch im Westen hausgemachte wirtschaftliche Probleme. Das Jahr 1992 verzeichnete Brandanschläge auf Wohnhäuser von rassifizierten Personen im Westen Deutschlands. Nicht nur die Studien von Heitmeyer und seinem Team zeigen, dass Diskriminierungen gegen Marginalisierte im Westen Deutschlands ähnlich hoch sind wie im Osten. Es handelt sich dabei um deutschlandweite und nicht spezifisch ostdeutsche Ausgrenzungsmechanismen, die im ganzen Land bekämpft werden müssen und nicht als alleiniges Problem einer abweichenden Minderheit stilisiert werden können.
Zudem gibt es auch diskriminierendes Verhalten, zu dem die Zustimmung im Westen höher ist als im Osten. In der aktuellen Studie „Deutsche Zustände“ stellen Heitmeyer und sein Team dies für den Sexismus fest. Das aber wurde in den Medien kaum thematisiert. Zu vermuten ist, dass im Westen sozialisierte Menschen die sexistische Zuteilung von Geschlechterrollen als weitgehend selbstverständlich hinnehmen und dementsprechend auch Medien und Politik diese Form der Diskriminierung nicht als besonders relevant erachten. Die Bewahrung konservativer Vorstellungen von Familie und Geschlechterrollen scheint auch der Zuschreibung von Kindstötungen als strukturellem Ergebnis des DDR-Systems zugrunde zu liegen. So werden, zum Beispiel, liberale Abtreibungsregeln in der DDR für heutige Kindsmorde in Ostdeutschland verantwortlich gemacht und damit für strenge Abtreibungsregeln geworben. Im Westen hingegen werden Kindstötungen durch Mütter als bedauerliche Einzelfälle und keinesfalls als strukturell begründet verhandelt.
Diese Verschiebung von Problemen in den Osten erfüllt zwei Funktionen. Zum einen werden die im Westen Sozialisierten vom Verdacht gereinigt, dass sie auch Probleme verursachen könnten und sich um diese kümmern müssten. Zum anderen wird das westliche System als das ideale dargestellt, an das sich der Osten bedingungslos angleichen muss. So wird Kontinuität und Deutungshoheit bewahrt. Der Westen bleibt unhinterfragbare Norm.
Obwohl die Menschen im Osten Deutschlands seit zwanzig Jahren von westdeutsch dominierten Institutionen wie den Bildungseinrichtungen und Medien geprägt werden, werden wahrgenommene Abweichungen von der westdeutschen Norm alleine der DDR und ihren Folgen zugeschrieben. Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen sowie die Interaktionen zwischen im Osten und im Westen Sozialisierten werden nicht zur Erklärung von Unterschieden herangezogen. Der Westen wird als unbeteiligt an den Entwicklungen im Osten (re)präsentiert. Selbst den jungen Menschen, die die DDR gar nicht mehr oder nur als Kleinkinder erlebt haben, wird eine von der DDR geprägte Mentalität attestiert. Es wird das Bild einer abweichenden ostdeutschen Mentalität konstruiert, die von den Eltern an die Kinder weitergeben werde und so in die Körper eingeschrieben sei. In diesen Zuschreibungen gleicht die Konstruktion der ostdeutschen Anderen der Konstruktion von rassifizierten (insbesondere muslimischen) Anderen, denen auch ein Anderssein in den Körper eingeschrieben wird.
Gleichzeitig war aber der Glaube an eine gesamtdeutsche Ethnie ein Teil des Selbstverständnisses der BRD und Grundlage für den Beitritt des Gebietes der ehemaligen DDR zur BRD. Auf Basis der imaginierten unteilbaren deutschen Nation war im Grundgesetz der Beitritt von deutschen Gebieten zugelassen worden und wurde in Westdeutschland (zumindest propagandistisch) auf eine Vereinigung hingearbeitet. Das konstruierte gemeinsame Deutschtum wurde als Garant dafür gesehen, dass das vereinigte Deutschland problemlos zusammenwachsen würde. Trotz aller Probleme wird diese Imagination auch weiterhin aufrecht erhalten.
Im Westen Sozialisierte merken den Widerspruch zwischen imaginierter Gemeinsamkeit und der Konstruktion der im Osten Sozialisierten als Andere kaum. In ihrer privilegierten Position können sie das eine behaupten und trotzdem das andere machen, ohne dass sie in Konflikte geraten. Die im Osten Sozialisierten aber erleben den Widerspruch immer wieder an den ihnen zur Verfügung stehenden Optionen. Sie erleben, wie sie gleichzeitig als gleich angesprochen werden und doch durch viele Handlungen als Andere abgewertet werden. Sie erleben sich als Bürger_innen zweiter Klasse, denen Anerkennung verweigert wird. Damit müssen sie umgehen und entwickeln unterschiedliche Strategien dafür (während die im Westen Sozialisierten dieses Problem ignorieren können).
Wenn in dem Arbeitsgerichtsverfahren jetzt aber Diskriminierung aufgrund von „ethnischer Herkunft“ angeführt wird und in einem Zeitungsartikel von „Rassismus gegen Ostdeutsche“ gesprochen wird, liegt darin die Gefahr der Verharmlosung rassistischer Ausgrenzungspraxen im vereinigten Deutschland. Denn auch wenn im Osten Sozialisierte Ausgrenzungserfahrungen durch im Westen Sozialisierte machen, so sind sie doch, zum Beispiel durch ihre deutsche Staatsbürgerschaft, im Vergleich zu den rassistisch Ausgegrenzten in Deutschland immer noch in einer sehr privilegierten Position. Das ungleiche Machtverhältnis zwischen West und Ost in Deutschland muss in seiner Spezifik thematisiert werden.