Forschungsprojekt: Die virtuelle zweite Generation

InderInnen in Deutschland und www.theinder.net

Stand: 2002 (Aktualisierung: siehe 2005, Publikationen und Überlegungen zu Begriffen)

In Deutschland leben heute etwa 35.000 Menschen mit indischer Staatsbürgerschaft, die zum Teil ohne Einbindung in eine indische Gemeinschaft leben, zum Teil mit. Die Entwicklung dazu ist insbesondere von der jeweiligen Migrationsgeschichte und dem rechtlichem Aufenthaltsstatus in Deutschland abhängig. (Vergleiche Desai 1993, Punnamparambil 1995 und Goel 1998 und 2002). Die Mitglieder der zweiten Generation der InderInnen in Deutschland sind in unterschiedlichen Umwelten mit unterschiedlichem Bezug zu Indien aufgewachsen. In der Regel kommen jene, die vor 1975 geboren wurden aus binationalen Familien, die einzeln irgendwo in Deutschland leben. Etwa ab dem Jahrgang 1975 dominieren die Kinder der keralesischen Krankenschwestern, die von Kindesalter an in eine ethnisch-definierte Gemeinschaft eingebunden sind. Mitte der 90er war die Zahl der jungen InderInnen der zweiten Generation insgesamt so stark gestiegen, dass spezifische Orte für sie, wie zum Beispiel Partys, Jugendtreffen und Seminare, entstanden und gut angenommen wurden. Seit Ende der 90er wurden zusätzlich Internetseiten von Einzelnen, Jugendgruppen und Projekten online geschaltet. Aus allen anderen Seiten sticht die von drei Studenten im Sommer 2000 eingerichtete Plattform www.theinder.net heraus, da sie ständig aktualisiert und viel genutzt wird. Sie versteht sich als "junge indische Internet Community" und hat das Ziel, "Menschen im Internet zusammenzubringen, die Kommunikation untereinander zu fördern, Projekte vorzustellen und über das Land Indien an sich zu informieren". Die Zielgruppe sind "primär die Generation junger, in Deutschland lebender Inder". Seit dem November 2000, nach einem Seminar, das die Vernetzung junger InderInnen der zweiten Generation in Deutschland zum Ziel hatte und bei dem sich www.theinder.net den anderen Gruppen vorstellen konnte, ist die Internetplattform stark frequentiert. Die interaktiven Elemente wie Gästebuch, Foren, Pinnwand und Chat werden intensiv genutzt.

Über 600 Jugendliche sind offiziell Mitglied von www.theinder.net, mehr als 800 haben sich im Forum registrieren lassen und viele weitere gehen regelmäßig auf die Seiten. Die meisten NutzerInnen sind Mitglieder der zweiten Generation der InderInnen in Deutschland, inklusive vieler mit binationalem Hintergrund und einiger adoptierter. Die Internetplattform ist im Gegensatz zu den meisten indischen Vereinen in Deutschland nicht durch eine regionale Gruppe dominiert. Die meisten NutzerInnen sind zwischen 16 und 25 Jahre alt, gehen zur Schule, machen eine Ausbildung oder studieren. Es sind überwiegend Kinder der etablierten InderInnen in Deutschland, sind sozial und wirtschaftlich recht gut gestellt. Nur wenige Deutsche und Inder aus Indien verweilen länger auf der Seite. Die Seiten werden genutzt als ein Treffpunkt unter Gleichgesinnten, an dem man Geselligkeit finden, Leute kennenlernen, sich verabreden, sich über Veranstaltungen, das Leben als jungeR InderIn in Deutschland und Indisches austauschen kann. Insgesamt dominiert der Aspekt der Geselligkeit. Kontakte, die in der physischen Welt geknüpft wurden, werden im virtuellen Raum gepflegt. Kontakte, die im virtuellen entstanden sind, finden in der physischen Welt ihre Weiterentwicklung. Der virtuelle Raum ist somit mit dem lokalem Geschehen in Deutschland bzw. dem deutschsprachigen Raum (einige NutzerInnen kommen auch aus Österreich und der Schweiz, andere aus den Niederlanden) eng verbunden.

Der Anspruch der Internetplattform ist es, trilingual (Deutsch, Englisch, Hindi) ins Netz zu gehen. Die Hauptsprache ist allerdings eindeutig Deutsch, sowohl bei den redaktionellen wie bei den interaktiven Elementen. Ab und zu werden auch Einträge in Hindi, Malayalam oder einer anderen indischen Sprache, zum Teil vermischt mit deutschen Ausdrücken, geschrieben. Manche NutzerInnen imitieren das ‚typische' indische Englisch oder Deutsch, das die Elterngeneration spricht. Dies wird auch häufig bei Treffen in der physischen Welt getan, führt dort zu einem Gefühl der Zusammengehörigkeit in Abgrenzung zu den Eltern und der Mehrheitsgesellschaft. Das Nutzen einer der indischen Sprachen ist auch immer eine Abgrenzung gegenüber anderen aus der zweiten G eneration, die entweder gar keine indische Sprache oder nur eine andere können. Daher kommen auch gelegentlich Klagen darüber, dass Einträge in einer der indischen Sprachen verfaßt werden. Eine besondere Bedeutung kommt dem Hindi zu, da es von einigen, ganz im Sinne der hindu-nationalistischen Ideologie, als die verbindende indische Sprache verstanden wird und durch sie versucht wird, nationale Einheit herzustellen. Sprache hat damit auf der Internetplattform wie auch in Indien erhebliche symbolische Bedeutung, kann Grenzen auf- und abbauen.

Die redaktionellen Teile der Internetplattform vermitteln vor allem Informationen über Veranstaltungen in Deutschland, die asiatische Musik- und Filmszene sowie über Gesellschaft und Politik in Indien. Gelegentlich sind auch Artikel zum Thema Identität in Deutschland zu finden. Die Themen in den interaktiven Foren sind vielfältig und reichen von dem im Internet üblichen Small Talk (inklusive gelegentlicher Flames, die dazu geführt haben, dass das sehr populäre Gästebuch geschlossen wurde) über die Suche nach Partnern und der Diskussion von Partys bis zu Debatten über aktuelle Ereignisse in Indien, indische Traditionen in Deutschland oder die eigene Zugehörigkeit. Politische Debatten sind in der Regel nur durch geringe Kenntnis, einen geringen Reflektionsgrad und oberflächliche Argumentation gekennzeichnet. Einige NutzerInnen beeindrucken durch wortgewaltige Argumentationen und scheinbares Sachwissen, ohne dass die Glaubwürdigkeit überprüft wird. Regelmäßig treten Konflikte entlang ethnischer, sprachlicher oder religiöser Abgrenzungen auf. Anti-pakistanische und anti-muslimische Beiträge sind keine Seltenheit. Es gibt allerdings auch mehrere regelmäßige NutzerInnen, die Wurzeln in Pakistan haben.

Gemeinsam ist den NutzerInen der Internetplattform, dass sie sich in irgendeiner Weise mit dem indischen Subkontinent verbunden fühlen. Die meisten haben eine dunkle Hautfarbe und einen indischen Namen, die dazu führen, in Deutschland als fremd kategorisiert zu werden. Der überwiegende Teil lebt mit zumindest einem indischen Elternteil zusammen. Indien ist ihnen vertraut durch indisches Essen, indische Hausdekorationen, indische Feste in Deutschland und den Besuch bei den Verwandten in Indien. Indische Werte und Normen spielen insbesondere in der Erziehung, den Verwandtschaftsbeziehungen und der Pflege von sozialen Kontakten eine Rolle. Indien ist daher mehr oder weniger präsent in dem Leben der InderInnen der zweiten Generation. Bei denen, die gar nicht indisch sozialisiert sind, wie die meisten adoptierten Kinder, führt die Hautfarbe zu einer Kategorisierung als InderIn oder zumindest als AusländerIn. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Wunsch die Internetplattform zu nutzen, scheint daher auch insbesondere aus der Auseinandersetzung mit und der Internalisierung der Kategorisierungen der Elterngeneration ("Ihr seid Inder.") und der Mehrheitsgesellschaft ("Ihr seid Ausländer.") zu entstehen. Die eigene Zugehörigkeit wird im Spannungsfeld von dieser Definition als InderIn und der gleichzeitigen Verankerung in Deutschland gesucht und debattiert. Als Orientierung dienen besonders die ‚Asian Communities' und ihre ‚Asian Culture', d.h. insbesondere Musik und Film, in Ländern mit stärkerer indischer Präsenz, wie Großbritannien und die USA. Auf www.theinder.net werden die regionalen, sprachlichen und religiösen Grenzziehungen der Elterngeneration weitgehend aufgehoben. Die gemeinsame Sprache Deutsch, das gemeinsame Anderssein in Deutschland und das gemeinsame auf Indien verwiesen sein stellen die Gemeinschaft her. Gelegentlich, wenn die Symbole der Gemeinschaft wie zum Beispiel die Sprache Hindi als nationale und verbindende Sprache Indiens in Frage gestellt werden, zerfällt die Gemeinschaft und die regionaen Abgrenzungen der Elterngeneration brechen wieder auf. Wenngleich Gemeinschaft so bisher nur in Ansätzen entstanden ist, dient www.theinder.net bereits jetzt als ein effektives Netzwerk. Ohne das Medium Internet hätte dies sich nur schwer etablieren lassen, da die Mitglieder der zweiten Generation in Deutschland verstreut über das gesamte Land leben und in absoluten Zahlen wenige sind. In Großbritannien etwa mit einer höheren Dichte von Indern, können die Netzwerke leichter im physischen Raum aufgebaut werden.

Gemeinsam mit den britischen InderInen ist aber auch den deutschen, dass sie in der Diaspora zwar nicht unbedingt den Gedanken an eine Rückkehr pflegen, wohl aber besonders darauf bedacht sind ihre Kultur und Traditionen zu bewahren und dies auch erfolgreicher als andere tun (Clifford 1997, 249). Hierzu gehört auch ein ausgeprägtes Netz transnationaler Verflechtungen, in das die jeweiligen nationalen Gemeinschaften eingebunden sind. Für die Mitglieder der zweiten Generation bedeutet dies, dass sie mit ethnischen Kategorisierungen aufwachsen, mit ethnisch begründeten Verhaltensweisen konfrontiert werden und ein erheblicher ethnischer Assimilationsdruck auf ihnen liegt. Sie müssen sich daher fast zwangsläufig mit ihrer ethnischen Identität auseinandersetzen und Räume finden, an denen sie diese aushandeln können. Der Erfolg der Internetplattform www.theinder.net deutet an, dass in diesem Kontext dem virtuellen Raum eine besondere Rolle zukommt.

Aktualisierung (Januar 2005)

Seit Antragstellung hat sich die Zahl der indischen StaatsbürgerInnen in Deutschland beträchtlich von etwa 35.000 auf etwa 45.000 erhöht. Dieser Zuwachs ist vermutlich durch den Zuzug von indischen Computerspezialisten und ihren Familien zu erklären. Diese MigrantInnen der ersten Generation sind im gleichen Alter wie jene der zweiten Generation, die das Internetportal www.theinder.net betreiben. Die Redakteure würden sie gerne als Nutzer gewinnen, konnten dies allerdings bisher nicht in erheblichen Umfang. Die Computerspezialisten nutzen ihre eigenen virtuellen Räume wie www.munichmela.de und die mailing-Gruppe GINDS.

Das Internetportal www.theinder.net  hat seine äußere Erscheinungsform beibehalten. Das Gästebuch wurde allerdings schon im Sommer 2003 geschlossen, da die Redaktion die Flames und beleidigenden Aussagen dort nicht mehr tolerieren wollte und sich nicht in der Lage sah, sie zu zensieren. Seit dieser Maßnahme und der Registrierungspflicht für das Forum sind Flames sehr viel seltener und harmloser. Die NutzerInnen haben sich im Forum ein Gästebuch selber geschaffen, das sie zum Grüßen nutzen, aber etwas versteckt liegt. Mit Stand 25.07.04 sind 880 Menschen offiziell Mitglied von www.theinder.net. Manche davon sind aktive NutzerInnen, andere waren es, einige sind BeobachterInnen, weitere wollen durch ihre Mitgliedschaft Unterstützung für das Projekt ausdrücken. Die meisten, aber nicht alle Namen in der Mitgliederliste haben zumindest einen „indischen“ Teil. Im Forum sind mittlerweile über 1100 Mitglieder registriert, von denen etwa die Hälfte schon mindestens einmal gepostet hat. Die Zahl der aktiveren Nutzeridentitäten (mit mindestens 25 Beiträgen), die die Diskussionen dominieren, liegt allerdings unter 100. Die Top Ten-NutzerInnen kommen jeweils auf mehr als 1000 Beiträge und sind damit die sichtbarsten NutzerInnen, die die Inhalte des Forums gestalten.

Auch die Zusammensetzung und Aufgabenteilung innerhalb der Redaktion hat sich seit Antragstellung verändert. Einige RedakteurInnen sind aus unterschiedlichen Gründen ausgestiegen, neue sind dazu gekommen. Es hat Verschiebungen in den Aufgabenbereichen gegeben. Gerade scheinen größere Umstellungen hinter den Kulissen vorzugehen, da die Gründer des Portals aus beruflichen Gründen immer weniger Zeit einbringen können. Die Veränderungen der Redaktion sind in der Rubrik Editorial nachverfolgbar, erfolgen allerdings für die NutzerInnen weitgehend unbemerkt. Von außen war in den letzten Monaten nur bemerkbar, dass das Portal nur selten aktualisiert wurde.

Der Indienboom in Deutschland in den Jahren 2002/03 hatte für eine verstärkte Wahrnehmung „indischer“ Veranstaltungen und Projekte in Deutschland geführt und dabei auch www.theinder.net immer wieder in die deutschen Medien gebracht. Er führte auch zu einem Boom „indischer“ Partys. Mittlerweile ist der Indienboom Geschichte, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Erfolg der Partys ist zurückgegangen.

Viele der Vorannahmen zum Feld haben sich durch die Feldforschung bestätigt, einige wurden aber auch widerlegt oder komplexer. So ist die NutzerInnenstruktur von www.theinder.net vielfältiger als angenommen. Während Studierende und SchülerInnen die größte Gruppe darstellen, sind auch viele Azubis und Berufstätige ohne akademische Ausbildung aktiv auf der Seite. Einige sehr engagierte NutzerInnen kommen aus dem deutschsprachigen Ausland, der Schweiz und Österreich. Ein paar leben in Großbritannien, stammen aber aus deutschsprachigen Ländern. Es gibt auch Deutsche und ÖstereicherInnen ohne südasiatische Wurzeln, die das Portal regelmäßig nutzen und sich dort wohl fühlen.

Nur eine Minderheit von BeobachterInnen und NutzerInnen sieht auf der Seite anti-muslimische bzw. anti-pakistanische Tendenzen. Es gibt eine Reihe muslimischer NutzerInnen und auch in der Redaktion sind bzw. waren Muslime aktiv. Die Minderheit, die diese Tendenzen sieht, hält sie allerdings für bedenklich und nutzt die Seite zum Teil aus diesem Grund nicht. Sowohl unter NutzerInnen wie auch in der Redaktion gibt es AnhängerInnen des Hindu-Nationalismus, so kommen auch immer wieder hindu-nationalistische Diskurse offensichtlich oder aber subtil auf das Portal. Zu einer latenter Islamophobie bei einigen kommt eine weit verbreitete Homophobie, die sich vor allem im Forum zeigt.

Für weitere Aktualisierungen siehe Publikationen und Überlegungen zu Begriffen.

© Urmila Goel, www.urmila.de 2006