Forschungsprojekt: Die virtuelle zweite Generation

Hypothesen

Stand: 2002 (Aktualisierung: siehe 2005 und 2006 sowie in Publikationen)

  1. Das Eigene in fremder Umwelt

    Die Inderinnen der zweiten Generation in Deutschland werden sowohl durch ihre Eltern wie die Umwelt ethnisch kategorisiert. Diese Fremd-Definitionen setzen einen Prozeß im Sinne von Jenkins (1997) ‚transactional ethnicity' in Gang, bei dem auf Basis der Bestimmung von außen eine ethnische Selbstdefinition erfolgt. Da es die dominierende Erfahrung der zweiten Generation ist, sowohl anders als die Eltern wie auch anders als die Umwelt zu sein, wird hierbei die Nähe und der Austausch mit anderen in der gleichen Situation gesucht. Die ethnisch definierte Internetplattform www.theinder.net bietet nun zum erstenmal einen allgemein und jederzeit zugänglichen, selbst gestalteten virtuellen Raum für den Austausch mit Gleichen und verstärkt damit die Dynamik der Prozesse. Die Mitglieder der zweiten Generation erfahren hier ein Gefühl des gegenseitigen Verstehens, der Zugehörigkeit und Gemeinschaft, das sie so kaum aus der physischen Welt kennen, das das Gefühl der Isolation überwindet und das sie an den ethnisch definierten virtuellen Raum bindet. (vergleiche Döring 1999) Da die Gemeinsamkeit hier ethnisch begründet wird, gewinnt die ethnische Identität der Nutzer auch außerhalb des Internets an Bedeutung. So kann der virtuelle Raum dazu führen, dass die InderInnen der zweiten Generation ihre ethnische Identität stärker betonen, als sie es ohne diesen tun würden. (vergleiche Friedman 1997) Ohne das es den Mitgliedern der zweiten Generation bewußt ist, entwickeln sie eine neue, eigene hybride Identität mit Bezug zu Indien, aber in Deutschland verankert und in Abgrenzung zu ihren Eltern. (vergleiche Werbners 1997 organische Hybridität)

    Der eigene virtuelle Raum gibt zudem die Möglichkeit ohne den direkten Einfluß von anderen, ein eigenes Bild von Indien aufzubauen, eigene Stereotypen gegen die anderen zu setzen. Dies ist wichtig, da die Erfahrungen in Deutschland auf Basis von Staatsbürgerschaft, Hautfarbe und/oder Kultur (vergleiche Jacobsen 1997) als fremd kategorisiert zu werden, bei den InderInnen der zweiten Generation zu der Suche nach einer Zugehörigkeit außerhalb Deutschlands führen. Unterstützt durch die Eltern und die geringe eigene Kenntnis des Landes nimmt Indien dabei die Funktion des perfekten Heimatlandes an, das idealisiert und in Schutz genommen wird (vergleiche Gardner und Shukur 1994). Im Virtuellen können die Mitglieder der zweiten Generation sich Themen selber erarbeiten und diskutieren, sich mit den Gegensätzen auseinandersetzen und eine eigene Meinung finden, sich in Bezug auf Indien verorten. Bestimmend ist dabei immer wieder die Überzeugung, zu Indien stehen zu wollen, partriotisch sein zu wollen. Hieraus erklären sich auch die starken anti-pakistanischen Tendenzen in den interaktiven Foren. (vergleiche Mitra 1997)

  2. Dynamisch in Verbindung mit physischer Welt

    www.theinder.net ist sehr erfolgreich im Zusammenbringen von vorher nicht miteinander bekannten Mitgliedern der zweiten Generation, die durch die Bekanntschaft im virtuellen Raum gemeinsame Projekte im virtuellen oder physischen starten. Dies neue Netzwerk ist nicht an die Netzwerke der Eltern, die sich auf der Basis von Sprache, Religion und regionaler Herkunft gebildet haben, gebunden. Die Abgrenzungen der Eltern werden überwunden, neue Beziehungen entstehen. Sie entstehen auf der Basis von individuellen Interessen; sie sind nicht kollektiv geprägt wie bei den Eltern (vergleiche Castells 2000). Die ersten Kontakte können in physischen oder virtuellen Räumen entstehen und werden dann in beiden Bereichen weiter gepflegt. Ein besondere Dynamik entwickelt sich nur, wenn das Virtuelle und Physische sich ergänzen und so befruchten.

    In den interaktiven virtuellen Foren und insbesondere dem Gästebuch wird eine neue Form von Kontaktaufnahme durch unverbindlichen Klatsch und Tratsch ermöglicht. NutzerInnen können sich darstellen, Kontakte aufbauen, Neuigkeiten mitbekommen, ohne sich zu irgend etwas zu verpflichten. Wenn sie mehr Verbindlichkeit und Verpflichtung wollen, können sie die Bekanntschaften im direkten offenen Kontakt weiter pflegen, müssen dies aber nicht tun (vergleiche Diekmannshenke 2000). Der virtuelle Raum erweitert damit die Interaktionsmöglichkeiten zwischen Individuen.

    Eine besondere Rolle kommt www.theinder.net bei der Entwicklung einer eigenen deutschen indischen Kulturszene zu (zur Bedeutung von Asian Culture in der Diaspora siehe auch Baumann 1996 und Gilroy 1993). In den interaktiven Foren wird abwechselnd über die nächste anstehende ethnische Party (von und für Inder der zweiten Generation gemacht) diskutiert oder die gerade vergangene besprochen. Auf der Internetplattform werden die Partys angekündigt, die Qualität der DJs und ihrer Musik diskutiert, Verabredungen getroffen, Fotos veröffentlicht und Kontakte gepflegt. Ergänzt wird dies durch redaktionelle Beiträge und Diskussionen zur Asian Culture und Bollywood-Filmen. Damit schafft das Internet eine Öffentlichkeit für diese Kulturszene, wirbt für Veranstaltungen und dient ihrer ständigen Weiterentwicklung.

  3. Transnational lokal

    Die Internetplattform www.theinder.netstartet mit einem globalen Anspruch, will trilingual nicht nur die InderInnen in Deutschland, sondern auch in Indien und dem Rest der Welt erreichen. Tatsächlich sind aber nicht nur die tatsächlich vorwiegend genutzte Sprache Deutsch sondern auch die Inhalte klar durch die Verortung der Macher und Nutzer in Deutschland bestimmt. Die NutzerInnen kommen daher fast ausschliesslich aus dem deutschsprachigen Raum sowie aus dem angrenzenden Niederlanden. Das Internetnetzwerk ordnet sich zwar in einen transnationalen Bezug ein, bleibt dabei aber lokal "deutsch". (vergleiche Stegbauer 2000, Kokot 2001 und McPherson 2000) "Deutsch" ist es allerdings in einer neuen Bedeutung. Die InderInnen der zweiten Generation sind geprägt durch die Kulturen der Eltern und der Mehrheitsgesellschaft und können sich in beiden bewegen (vergleiche Ballards 1994 ‚skilled cultural navigator'). Sie sind

    ‚Andere Deutschen', da sie anders als die ‚Deutschen' und anders als die Eltern aber verankert in Deutschland sind (vergleiche Mecheril und Teo 1994). Gerade im Falle der Adoptierten, die gar nicht indisch sozialisiert wurden, bezieht sich das Anderssein weniger auf eine eigene fremde Kultur sondern auf das Andersmachen durch Andere (vergleiche Mecherils 1997 Redefinition der ‚Anderen Deutschen').

  4. Gemeinschaft und Abgrenzung

    Die Überzeugung der NutzerInnen der Internetplattform, dass sie mit den anderen ethnisch verbunden sind und dass es ein einheitliches Indien gibt, führt zu einem Gefühl der Zusammengehörigkeit und Einheit (vergleiche Cohen 1985). In der gemeinsamen Sprache Deutsch kann das gemeinsame indische Bewußtsein gestärkt werden. Dabei bleiben die Symbole der Verbundenheit recht ungenau definiert. Sobald Spezifierungen gemacht werden, wenn zum Beispiel Hindi als gemeinsame indische Sprache gefordert wird oder im Gästebuch Malayalam genutzt wird, wenn also das Indische mit Inhalt gefüllt wird, beginnt die Einheit zu zerfallen. Dann tritt auch unter der zweiten Generation ein, was sie bei der Elterngeneration ablehnen - der Rückbezug auf regionale indische Identitäten. (vergleiche Mitra 1997) Bei der Gemeinschaftsbildung verfügt der virtuelle gegenüber dem physischen Raum über den Vorteil, dass diese störenden Abgrenzungen besser ausgeblendet werden können.

  5. Erweiterung des ethnisch-indischen Medienangebots

    Die indischen MigrantInnen in Deutschland haben früh mit der Gründung von eigenen Zeitschriften (in Deutsch oder in einer indischen Sprache) begonnen. In den letzten Jahren wurden auch zunehmend Mitglieder der zweiten Generation in die Redaktionen mit eingebunden, ohne dass dies jedoch zu einer bemerkbar wachsenden jungen Leserschaft geführt hat. Die Jugendlichen konnten erst mit der eigenen Internetplattform erreicht werden. Dabei spielt nicht nur eine Rolle, dass sie einen selbstgestaltet Raum schafft, sondern auch dass das Medium Internet das Medium der Jugend ist, auf Interaktion angelegt ist und daher stärker angenommen wird. www.theinder.net stellt damit einen weiteren Schritt in der Entwicklung der ethnisch-indischen Medien in Deutschland dar. (vergleiche Schatz et al 2000, insbesondere Becker 2000)

Aktualisierung (Januar 2005)

Die im Antrag formulierten Hypothesen und Erwartungen haben sich durch die Feldforschung, insbesondere die Interviews, in ihren Grundlinien weitgehend bestätigt. In ihren Einzelheiten wurden sie weiterentwickelt.

So lässt sich die Bedeutung der Hypothese Das Eigene in fremder Umwelt durch die Feldforschung unterstreichen. In den Interviews wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass www.theinder.net einen Raum schafft, in dem „Vertrautheit ohne Erklärungsbedarf“ vorherrscht und dies ihn so wichtig mache. Ein Gefühl von Verbundenheit aufgrund der gemeinsamen indischen bzw. südasiatischen Herkunft ist die wesentlich Motivation, um theinder.net zu nutzen. Wie sich hierdurch die eigene ethnische Definition entwickelt, ist allerdings weniger eindeutig festzustellen. Es gab sowohl Interviewte, die angaben durch www.theinder.net „indischer“ geworden zu sein, wie jene die durch das Portal ihren Bedarf an Auseinandersetzung mit „Indischem“ gedeckt haben und sich jetzt nicht mehr so dafür interessieren. Die Gemeinsamkeiten sind zum Teil „national-indisch“ definiert, zum Teil allerdings auch weniger klar abgegrenzt „kulturell-indisch“. Dadurch fühlen sich auch NutzerInnen und RedakteurInnen angesprochen, die keine Verbindung mit dem Staat Indien haben, da sie aus Pakistan, Afghanistan oder Sri Lanka stammen.

Die Hypothese Dynamisch in Verbindung mit physischer Welt hat sich nicht nur durch die Feldforschung sondern auch durch die theoretische Literatur weiter gestärkt und hat daher zentrale Bedeutung auch für das methodische Vorgehen. Ebenso ist das der Hypothese Transnational lokal zugrunde liegende Konzept der Anderen Deutschen weiter. Gegenüber dem Antrag muss allerdings ergänzt werden, dass das Lokale sich nicht ausschließlich auf Deutschland begrenzt, die NutzerInnen sind auch in der Schweiz und Österreich, sowie im geringeren Umfang auch in den Niederlanden und England verortet. Entscheidend für die Nutzung ist dabei die deutsche Sprache.

In Abmilderung der Hypothese Gemeinschaft und Abgrenzung ist zu sagen, dass wahrgenommene Differenzen nicht notwendigerweise zu Konflikten und Abgrenzungen führen, wohl aber zur Verhandlung über die Relevanz der Differenzen. In vielen Interviews wurde das Überwinden von regionalen Differenzen als ein wesentlicher Erfolg von www.theinder.net gesehen.

Auch die Hypothese Erweiterung des ethnisch-indischen Medienangebots muss etwas umformuliert werden. Es geht um mehr als nur ein neues Medium. Das Internetportal bietet einen neuen, selbst gestalteten Raum für InderInnen der zweiten Generation. Dies ist die neue entwickelte zentrale Hypothese des Forschungsprojektes. Er betont die Bedeutung von Rückzugsräumen für Andere Deutsche, die sowohl im physischen wie virtuellen Raum geschaffen werden können und die sowohl dauerhaft wie temporär sein können. Da der virtuelle Raum mit anderen Räumen, wie zum Beispiel ethnisch-definierte Partys aber auch anderen nicht ethnisch-definierten virtuellen Räumen verbunden ist, kann über eine weitere Analyse auch das Konzept der Parallelgesellschaften in Frage gestellt werden.

Die Grundannahme des Forschungsprojektes ist es, dass es keinen Sinn macht zwischen virtuellen und physischen Räumen strikt zu unterscheiden. Es geht viel mehr um die Vernetzung. Dabei bleibt aber die Frage, was das spezifisch neue an dem Medium Internet ist, erhalten. Neu ist die spezifische Form von Kommunikation, die insbesondere durch Schriftlichkeit und Anonymität geprägt ist. Zudem erlaubt das Internet die Schaffung von Öffentlichkeiten für Akteure, die in der physischen Welt dazu nicht so leicht die Autorität und Legitimation erhalten würden. Schließlich erfolgt der Eintritt und Austritt in virtuelle Räume sowie das Entstehen und Scheitern der virtuellen Räume an sich viel schneller als dies bei physischen der Fall ist.

Aktualisierung (August 2006): in Ergebnisse

Siehe auch Publikationen für die Auseinandersetzung mit den Hypothesen.
 

© Urmila Goel, www.urmila.de 2006