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Ich schaue von einer Freitreppe über die Zufahrt des Claridges Hotel in New Delhi auf den Garten. Eine kreisrunde Rasenfläche, von Rhododendren und anderem Gebüsch eingerahmt. So jedenfalls sieht das aus, was ich als meine erste Lebenserinnerung verstehe. Dreißig Jahre später stehe ich an der gleichen Stelle und möchte wissen, ob das irgendetwas mit mir macht. Es sieht genau so aus, wie ich es im Kopf hatte. Schwarze Taxen fahren vor und spucken westliche Hotelgäste aus.
Ich bin nach Indien gefahren, um eine unerledigte Hausaufgabe anzugehen. Ich will erfahren, was mich mit dem Land verbindet, aus dem mein Name stammt und dessen Nennung stets eine Erklärung erfordert. Chakraverty ist ein indischer Name. Mein Vater ist Inder. Nein, man sieht es mir nicht an. Nein, ich habe lediglich als Kind einige Zeit dort verbracht, und ich war noch sehr klein. Nein, ich spreche kein Indisch, Indisch gibt es nicht. Bengali oder Hindi wäre wahrscheinlich die Sprache der Wahl, wenn ich eine indische Sprache lernen wollte, was eine weitere Hausaufgabe wäre. Der Vorname ist eine Abkürzung, mein Großvater hieß Digindra, aber so heißt in Indien heute kein Mensch mehr. Auch Digo nennt niemand seinen Nachwuchs, googeln Sie das mal, da finden Sie nur selbstausgedachte Spitznamen, Firmenbezeichnungen und haufenweise Brasilianer, die eigentlich Rodrigo heißen. Und ein afrikanisches Volk, the Digo People. Immerhin wohnen die am Indischen Ozean. Die erste Person Singular des spanischen Verbs decir lautet: digo. Wenn ich meinen Vornamen ausspreche, sage ich: Digo Digo.
Als ich drei Jahre alt war, trennten sich meine Eltern, und ich lebte mit meiner Schwester bei meinem Vater. Anfangs hatte er viele indische Freunde, und hin und wieder saßen dunkelhäutige Menschen in unserem Wohnzimmer, rochen fremd und sprachen unverständliche Worte. Mein Vater nannte mich »Motu«, was »Dickerchen« auf Hindi heißt (und ebenfalls der Name eines Volksstammes ist, allerdings in Polynesien).
Mit den Jahren wurden die indischen und pakistanischen Besuche immer seltener, und stattdessen fanden sich Nachbarn und Arbeitskollegen meines Vaters bei uns ein.
Wir fuhren nie mehr nach Indien, und mein Vater sagte, seine Mutter sei gestorben, als er noch ein Kind gewesen sei, seine Geschwister bei einer Pockenepidemie ums Leben gekommen, und Großvater Digindra sei plötzlich entschlafen, als sein Sohn in Europa an seiner Doktorarbeit in Soziologie gearbeitet habe. Es gebe keine Verbindung mehr dorthin.
Wir fragten natürlich nach, aber das wenige, was aus ihm herauszukriegen war, war widersprüchlich, bruchstückhaft und wenig glaubwürdig. Für uns war Indien nicht zu fassen.
Auf unserem Briefkasten stand weiterhin »Chakraverty« und »Indo-German Association«. Als im benachbarten Düsseldorf das erste indische Restaurant in der Region eröffnete, fuhren wir hin. Auch zuhause fanden sich mit Kardamom und Asafötida gewürzte Gerichte hin und wieder auf dem Esstisch. Ich besaß einen deutschen Kinderausweis und einen indischen Reisepass.
Zu dieser Zeit wurde ich von Alpträumen geplagt, die mich nachts aufschrecken ließen. Einer dieser Träume spielte in Indien und kehrte über Jahre immer wieder: Meine Eltern gehen vor mir Hand in Hand eine Treppe herauf, die von dichtem Buschwerk gesäumt wird. Die Szene ist in den gleichen Cinemascope-Farben gehalten wie meine ersten Indien-Erinnerungen. Die beiden entfernen sich immer weiter von mir, ich komme einfach nicht hinterher. Plötzlich erscheint im Gebüsch der Kopf einer riesigen Raubkatze. An dieser Stelle wachte ich jedes mal auf. Wenn ich auf dem Weg zur Schule an einem Gebüsch vorbei kam, hielt ich Abstand – es könnte ja ein Ungeheuer hervorstürzen.
In meiner Grundschule gab es Deutsche und Ausländer: Italiener, Griechen, Jugoslawen. Es stand stets außer Zweifel, dass ich zu den Deutschen gehörte, mochten die Lehrer auch über meinen Nachnamen stolpern.
Mit den Jahren verblasste Indien immer weiter, obschon ich mit einem Mann zusammenwohnte, der manchmal auf Hindi oder Bengali mit Freunden telefonierte und nie über eine rudimentäre Beherrschung des Deutschen hinauskam.
Auf dem Gymnasium war meine zweite Herkunft bis auf die kruden Verballhornungen meines Namens beim Durchgehen der Anwesenheitsliste lange kein Thema.
Dann sprach eine Erdkundelehrerin nach einem Indien-Urlaub von den »zarten Indern«, die sich dort in den Bussen drängelten. Fortan nannten mich einige Mitschüler jahrelang immer wieder den »zarten Inder«, weil ich eben alles andere als »Motu«, das Dickerchen, geblieben war. Ich wusste nie so recht, wie ich darauf reagieren sollte, weil es auf eine Leerstelle in meiner Persönlichkeit zielte. Es waren Mitschüler, mit denen ich befreundet war und die mich wirklich mochten, freundliche Menschen aus bürgerlichen Haushalten, die sich in ihrer Freizeit sozial engagierten. Wieso ausgerechnet von dort ein gutmütig gemeinter, rassistischer Spott auf mich niederging? Vielleicht, weil mein fremdartiger Name irritierend mit meinem »deutschen« Äußeren kontrastiert, auf einmal jedoch eine physiologische Gemeinsamkeit mit dem Stereotyp vom »zarten Inder« augenfällig geworden war. Diese lief zudem dem Geschlechterklischee entgegen (Männer haben nicht zart zu sein), in einem Alter, in dem wir alle auf der Suche auch nach unserer sexuellen Identität waren. Vielleicht war das zu viel der Spannung für die pubertierenden Gehirne meiner Mitschüler.
Als ich achtzehn Jahre alt wurde, ging mir die indische Staatsbürgerschaft verloren. Es wäre mir nicht aufgefallen, hätte der deutsche Staat mich nicht umgehend als einen der Seinen angesehen und einen zwanzigmonatigen Zivildienst antreten lassen. Zu dieser Zeit sprach Edmund Stoiber von einer »durchmischten und durchrassten« Gesellschaft. Da fühlte ich mich noch einmal für einen kurzen Augenblick auf der anderen Seite der Linie, die die Deutschen zwischen sich und den »anderen« zogen. Herr Stoiber hat damals in der ihm eigenen Gründlichkeit ein solides Fundament für meine Abneigung gegen ihn gelegt, und als er eine Dekade danach für das Bundeskanzleramt kandidierte, beschimpfte ich jeden, der auch nur erwog, für den bräunlichen Bayern zu stimmen.
Die Träume von Treppe und Raubkatze im Gebüsch überfielen mich immer seltener und hörten schließlich ganz auf.
Manchmal kokettierte ich mit meiner indischen »Herkunft«, schämte mich aber meistens dafür, als wäre das eine Art Mimikry, mit der ich mich interessant machen wollte. Tatsächlich gelang das hin und wieder. Manche Mädchen ließen sich damit vorübergehend beeindrucken. Prinzipiell fühlte ich mich von Menschen, bei denen Indien Verzückung hervorrief, allerdings eher abgestoßen. Indien-Expertise wird gerne in belehrendem Tonfall zum Besten gegeben, was an sich schon schwer zu ertragen ist. Wer aber ein schlechtes Gewissen wegen der eigenen Unkenntnis hat, besitzt noch einen Grund mehr, solchen Menschen aus dem Weg zu gehen. Zudem war Köln in den achtziger Jahren Hochburg der Sanyassin-Bewegung, und das Belgische Viertel wimmelte von deutschen Mittelschichtkindern, die sich alberne Namen geben ließen, um ihre Eltern zu ärgern. Zuweilen spürte ich eine gewisse Empörung, dass die mir vorenthaltene Kultur als esoterischer Versandhauskatalog für die Persönlichkeitsbastelei von Lehrertöchtern und Arztsöhnen herhalten musste. Und wie man merkt, war auch eine gute Portion Neid im Spiel.
Ich entschied mich nach dem Zivildienst für das prekäre Dasein eines Kulturschaffenden, spielte in Bands, organisierte Konzerte und Tourneen, und nichts davon wies Berührungspunkte mit Indien auf. Eine Weile wohnte ich in einem Haus, vor dem sich ein Skinhead-Treffpunkt entwickelt hatte, und dachte hin und wieder frei nach Blumfeld: »Scheiße, was'n Glück, das ich nicht ausseh, wie ich heiße.«
Meine Lebensweise führte dazu, dass ich nie Geld für Urlaub hatte, was mich nicht weiter störte. Eine Indienreise konnte ich mir nicht leisten. Mit der Zeit spürte ich jedoch einen immer dringenderen Wunsch dazu. Verstreut eingesammelte kulturelle Artefakte erzeugten eine diffuse Sehnsucht bei mir, sei es ein Roman von Hanif Kureishi oder ein Film von Mira Nair. Ich brachte mir bei, Aloo Gobi, Dal und Shahi Paneer zuzubereiten. Hinzu kam, dass mein Lebensentwurf mich in eine Sackgasse geführt hatte. Es wurde immer schwieriger, Geld mit der Musik zu verdienen, und gleichzeitig gerieten meine Projekte immer waghalsiger, zuletzt versuchte ich mich an der Vertonung deutscher Gedichte mit einem fünfzehnköpfigen Ensemble. Ich war inzwischen dreißig. Abends um halb zwölf zum Kellnern in der Disco anzutreten, fiel mir mit der Zeit nicht leichter.
Indien half mir aus der Patsche.
Buddha trat in mein Leben, lächelte und segnete – mein Konto.
Ich hatte eine zeitlang Schauspielunterricht genommen und war in einer Darstellerkartei gelandet, als man für eine etwas debile Werbeaktion jemanden suchte, der glaubhaft einen buddhistischen Mönch darstellen konnte. Ein »zarter Inder« mit kahlgeschorenem Kopf passte der Agentur gut ins Konzept. Man zahlte fünfhundert Mark am Tag. Ich war in Windeseile saniert. Fragen Sie nicht, wie ich mich bei der Aktion gefühlt habe. Ironischerweise habe ich den Job wahrscheinlich genau deshalb bekommen, weil ich familiäre Wurzeln im Geburtsland des Buddhismus habe, aber eben nicht so aussehe – buddhistische Mönche stellt man sich hier nicht eben dunkelhäutig vor.
Mit der Musik war ich fertig. Ich hatte keine Ahnung, wie ich jemals davon würde leben können. Sobald ein Projekt Erfolge erzielte, brach ich meine Zelte ab und fing ein Neues an. Nach zehn Jahren Gastronomie hatte sich die Faszination des Getränkeverkaufens ebenfalls erschöpft. Der Neoliberalismus hatte inzwischen reichlich Fahrt aufgenommen; es wurde ungemütlich für Künstler und Lebenskünstler. Doch es war auch etwas faszinierendes Neues entstanden: Das Internet. Rüttgers folgte in Stoibers Fußstapfen und forderte »Kinder statt Inder« an den Computern. Ich drehte den Spieß um. Mit meinem Buddhistengeld kaufte ich mir meinen ersten Rechner. Schnell erkannte ich, dass die Maschine ein Werkzeug zum Geldverdienen sein konnte. Ich wurde Programmierer zu einer Zeit, als der sprichwörtliche Greencard-Inder Stammgast in der Presse war (aber keine Lust verspürte, nach Deutschland zu kommen). Scherze über Computerinder bekam ich in der Folge häufig zu hören, und nicht selten war ich selbst derjenige, der sie von sich gab. Die Frage, ob die Fähigkeit zur Abfassung komplexer Algorithmen den Indern und damit auch mir in die Gene eingestempelt sei, beantwortete ich zuweilen mit »so wie die Neger den Rhythmus im Blut haben«, was eine antirassistisch gedachte, irgendwie aber auch reichlich überhebliche Antwort ist.
Die Arbeit katapultierte mich aus dem studentischen Prekariat in die deutsche Mittelklasse, wo ich trotz des Migrationshintergrundes zweifellos schon immer beheimatet gewesen war. Nun hatte ich auch das dazu passende Einkommen. Innerhalb eines halben Jahres war ich in der Lage, meine erste Indienreise seit der frühen Kindheit zu finanzieren. Ich flog mit meinem ältesten Freund, der schon mehrere Male dort gewesen war, nach Neu Delhi. Bei der Landung musste ich mir die Nase putzen und tat so, als hätte ich geniest.
Mein eingangs geschildertes Erlebnis auf den Stufen des Claridges-Hotels sollte symptomatisch für diese Reise werden. Es gab keine Erweckung eines inneren Indiens, keine sich plötzlich öffnende Schatzkammer in meinem Bewusstsein oder Entdeckung einer geheimnisvollen Verbindung zur indischen Kultur, oder was für eine diffuse Erwartung ich auch immer gehabt haben mag. Natürlich wusste ich, dass ich wie ein Amerikaner bin, dessen Vater in Warschau gewohnt hat, dessen Familie aber eigentlich aus Sizilien stammt, und der dann nach Dublin fährt, um seine innere Verbindung zu Europa zu entdecken. Ich hoffte insgeheim dennoch auf Etwas. In Delhi, Haridwar, Varanasi, Kalkutta, Agra, Bodhgaya, Jaipur, Jodhpur, Mount Abu und Ahmedabad war ich jedoch nichts als ein weiterer westlicher Tourist in einem anstrengenden und merkwürdigen Land mit freundlichen Menschen und leckerem Essen. Gelegentliches Erstaunen der Inder über meinen Nachnamen bildete einen der wenigen Unterschiede zum Reiseerlebnis von Normaltouristen. Ein Bankbeamter in Kalkutta sagte mit dem Blick auf meinen Reisescheck: »Oh. Your name is Chakraverty?«. »Yes« freute ich mich, »My name is Chakraverty.«, woraufhin der Mann »Oh. Brahman.« flüsterte, mit der Hand eine Brahmanenschnur auf seinem Oberkörper nachzeichnete und mich so ehrfurchtsvoll ansah, dass mein Kopf hochrot anlief.
In Agra mietete ich mir einen Wagen mit Fahrer und suchte den einhundert Kilometer entfernten Geburtsort meines Vaters auf. Ich fand seine Schule, an der mein Großvater unterrichtet hatte, sprach mit Anwohnern und Schülern, aber es war nichts herauszufinden. Ein pensionierter Lehrer (der einige Jahre jünger war als mein Vater) versprach, Nachforschungen anzustellen, ließ aber nie mehr von sich hören. Ämter waren verschlossen, Adressen erwiesen sich als falsch. Indien war nicht zu fassen. Immerhin hatte ich die staubige, unansehnliche Stadt zu Gesicht bekommen, der mein Vater als junger Mann entflohen war und in die er nach seiner Auswanderung keinen Fuß mehr gesetzt hat.
Nach diesem Ausflug verließ mich mein Begleiter, dessen Unterstützung mir sehr geholfen hatte, der aber mitunter mit den tatsächlich Einheimischen etwas ruppig umgesprungen war. Es ist in den überfüllten und armen Städten Nordindiens nicht einfach, mit der ständigen Belagerung durch die Locals umzugehen. Unentwegt hat man sich Geschäftsanbahnungen unterschiedlichster Art zu erwehren. Mein Freund kannte die Situation und hatte sich eine sehr bestimmte und durchsetzungsstarke Art für diese Ereignisse angewöhnt. Als er abgereist war, musste ich mir einen eigenen Umgang mit den Indern erarbeiten. Anfangs versuchte ich es freundlich, wurde, als das nicht half, immer ungehaltener, bis ich in Jaipur beinahe verprügelt worden wäre, weil mein Widerwille in Arroganz umgeschlagen war. Es fällt mir leicht, das Wort gegen Autoritäten zu erheben; ich habe sogar einen gewissen Spaß daran. Streits auf Augenhöhe fallen mir schon schwerer. Doch in dieser Situation war meine Schroffheit reiner Hilflosigkeit geschuldet. Es bedurfte eines jungen, aufgebrachten Mannes, der sich mir in den Weg stellte und fast handgreiflich wurde, um mich aus dieser Verhärtung zu lösen. Zwar gingen wir grummelnd auseinander, doch schon währenddessen begriff ich die Lektion. Es war eine Lektion in Gelassenheit.
Die Psychologie geht davon aus, dass Empathie über empfundene Ähnlichkeit vermittelt wird. Das bedeutet: Je ähnlicher mir mein Gegenüber scheint, umso eher habe ich Mitgefühl mit ihm oder ihr. Ich begegnete Hunderten von hilfebedürftigen, armen, mageren Indern, für die ich nichts tat. Wirklich geholfen habe ich dann einem gut ausgestatteten schwedischen Pärchen, das sich die Kotzerei eingefangen hatte. Ich schenkte ihnen Elektrolyte, besorgte ihnen ein Hotelzimmer und verhandelte für sie mit dem Rikschafahrer. Abends musste ich darüber lachen – sollte ich meinen Nachnamen vielleicht gegen Svensson eintauschen?
Ich stolperte noch durch einige Orte an der indischen Westküste, bis ich in Bombay ankam. Für den letzten Tag hatte ich mir vorgenommen, ein Foto aufzunehmen, das in verschiedenen Versionen existiert: Von meiner älteren Schwester, von mir und von meiner jüngeren Schwester. Es zeigt uns jeweils auf der Aussichtsplattform eines Gebäudes, dass die Form eines riesigen Stiefels in der Nähe der hängenden Gärten von Bombay hat. Dieses Motiv wollte ich erneut aufnehmen, 32 Jahre nach der Originalaufnahme.
Schon bei der Ankunft im Park sah ich den Stiefel. Er war viel kleiner als erwartet. Nur ein Stockwerk hoch. Immer noch ordentlich geschnürt, immer noch ein funktionstüchtiges Dach im Disney-Stil obendrauf. Der Zutritt ist nur Kindern erlaubt, und beinahe auch nur ihnen möglich. Durchzwängen, durchzwingen, bücken, die eisernen Sprossen nach oben. Im Innern roch es nach Kot. Auf dem Balkönchen stehend, wartete ich auf ein Gefühl. Ich sah Gartenanlagen, Gärtner, ein junges Paar auf der Parkbank. Nichts erinnerte mich an etwas. Ich versuchte mir vorzustellen, wie meine Schwestern hier gestanden hatten.
Ich kletterte herunter und bedankte mich bei dem Inder, der so nett gewesen war, mich zu fotografieren. Er lächelte, stieg auf einen Motorroller und schob sich knatternd nach links aus dem Bild. Hinter der blauen Abgaswolke seines Zweitakters wurde der Zugang zu den hängenden Gärten sichtbar.
Einen Moment lang vergaß ich zu atmen. Ich stolperte zu der Stelle, wo eben noch der Motorroller gestanden hatte. In meinem Brustkasten stand George Foreman und verprügelte einen Sandsack. Als ich wieder Luft bekam, stieg mir ein Brennen in Nase und Augen wie von bösartigem Meerrettich.
Vor mir lag die Treppe aus meinem Traum. Die Stufen waren rissig, ausgetreten und teilweise herausgebrochen. Aber es war die Treppe. Die Schrift auf dem Torbogen war kaum noch zu entziffern: »...Mehta Garden« konnte man noch lesen. Ein Gummiball pumpte sich in meiner Kehle auf. Dies war die Treppe aus meinem indischen Kindheitstraum, es bestand kein Zweifel. Ich setzte mich auf den untersten Treppenabsatz. Was fühlte ich denn? Minutenlang war mein Körper in Aufruhr, bis der Gummiball wieder schrumpfte. Mein Atem ging wieder langsamer. Ich spürte den warmen Wind, der mir, von den hängenden Gärten kommend, den Rücken streichelte. Ich atmete tief durch und nahm die Hände vom Gesicht, dann erhob ich mich langsam. Meine Beinmuskulatur war zu Wülsten verknotet, die sich wie Kaugummi auseinanderzogen. Ich wandte mich zur Seite, wollte den Aufstieg zum Torbogen beginnen, der den Eingang zu den Gärten bildete, und erstarrte in der Bewegung. Ein Geräusch aneinanderreibender Blätter, zur Seite geschobener Pflanzenteile, wegknickender Äste. Das Geräusch, das mich über Jahre hinweg im Traum hatte herumfahren lassen, weil dort jetzt, im Grün, der Kopf eines Löwen erschien.
Das Geräusch des Windes verschwand hinter einer Wand aus Watte.
Der Löwe lächelte. Ich ging auf ihn zu und legte meine Hand auf seinen Kopf. Er blieb unbeweglich. Dann sah ich zu seinen Nachbarn herüber, dem Nashorn, dem Elefanten, dem Pferd. Lustig warf der Gir seine Tatzen nach vorne, es trabten die Dickhäuter, es galoppierte ein Eselchen, sogar ein Känguruh sprang vorneweg. Es waren aus Holzscheiben gefertigte Figuren, an den Gittern neben der Treppe vor den Sträuchern angebracht. Harmlose Skulpturen.
Ich hatte mich eine Kindheit lang vor einer Holzfigur gefürchtet.
Das war die gute Nachricht. Die Schlechte lautete: Mein indisches Schatzkästchen ist ebenfalls so gut wie leer. Ein paar verblasste Bilder rascheln darin herum, mehr nicht. Es ist einfach nichts mehr hinzugekommen. Identität ist ein Prozess, keine Erbschaft, die darauf wartet, einem in den Schoß zu fallen.
Ich setzte mich im Park auf eine Bank. Die Beete waren verwachsen, überall wucherte unansehnliches Gestrüpp. Ein Gärtner in Kakiuniform kämpfte mit einer rostigen Harke gegen das Unkraut. Er war mindestens siebzig. Als er mich bemerkte, bewegte er sich auf mich zu, als wäre ich ein wildes Tier oder ein Hund, von dem man nicht weiß, ob er beißt. »You okay, Sir?«.
»Es geht mir gut. Vielen Dank. Ich bin nur etwas mitgenommen von einer Erinnnerung.«
»Ha. Okayokay.« Der Mann wackelte mit dem Kopf und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Bei meiner Ausreise blätterte der Zollbeamte im Flughafen von Bombay durch meinen Pass, kniff skeptisch die Augen zusammen und suchte mein Gesicht ab.
»Oh.« sagte er. »Your name is Chakraverty?«
»Yes.« seufzte ich. »My name is Chakraverty.«