von Kathleen Heft und Urmila Goel
im Rahmen des Forschungsprojekts
„Die virtuelle zweite Generation“
gefördert von der Volkswagenstiftung
vom
Donnerstag, 10. bis Samstag, 12. November 2005
an der Europa-Universität Viadrina
Frankfurt/Oder
Nach der Diskussion über Konzepte und Begrifflichkeiten zur zweiten Generation diente der zweite Teil des Workshops dazu, sich mit Konzepten zu medial gestalteten Räumen auseinanderzusetzen. Im Hinblick auf das Forschungsprojekt „Die virtuelle zweite Generation“ sind hier insbesondere virtuelle Räume, wie ethnisch definierte Internetportale, Foren und Chatrooms von Interesse. Was ist neu an solchen medialen oder auch virtuellen Räumen und inwiefern spielen sie eine Rolle im Migrationskontext? Welche Funktionen erfüllen solche natio-ethno-kulturell definierten Plattformen wie theinder.net oder die asia-zone.de? Inwiefern können sie vielleicht eine Alternative gegenüber den Mehrheits- bzw. Massenmedien darstellen? Dienen sie als Sprachrohr, indem sie ihren NutzerInnen die Teilnahme an öffentlichen Diskursen ermöglichen? Und stellen sie eher eine Chance auf dem Weg zur Anerkennung von ‘MigrantInnen’ dar, oder besteht mit ihnen die Gefahr der Segregation und der Herausbildung von sogenannten Parallelgesellschaften in einer heterogenen pluralen Öffentlichkeit?
Der Input der Politologin Sigrid Baringhorst (Universität Siegen) befasste sich mit dem Verhältnis von Migration und (Mehrheits-)Medien, der Soziologe Nils Zurawski (Universität Hamburg) beleuchtete die Spezifik von virtuellen Räumen.
In der an die Präsentation der Inputs anschließenden Diskussion kristallisierten sich drei Schwerpunkte heraus: Erstens, standen die Funktionen und Möglichkeiten medialer Räume von ‘MigrantInnen’ der zweiten Generation zur Debatte. Zweitens, stellte sich die Frage nach der Anschlussfähigkeit jener Räume an mehrheitsgesellschaftliche Diskurse bzw. an die massenmediale Öffentlichkeit. Und drittens, befasste sich die Diskussionsrunde mit der Problematik und Unschärfe des Begriffs der Virtualität. Dreh- und Angelpunkt der Diskussionen waren die Konzepte von ‘Integration’ und ‘Segregation’ im Hinblick auf gesellschaftliche Teilhabe und Diskursivität sowie eine Debatte um die Ausbildung von sogenannten ‘Parallelgesellschaften’ in Form von ‘Ethno-Medien’.
Als grundlegende Funktionen von medialen öffentlichen Räumen kennzeichnet Baringhorst sowohl jene als public forum, welches durch die Herstellung von Öffentlichkeit die Artikulation von Interessen ermöglichen soll, als auch als mobilizing agent, der über eine kollektive Identitätsstiftung ein Interesse am politischen Geschehen und am Gemeinwohl hervorbringen soll.
Die von Jürgen Habermas aufgestellten Kriterien zur Funktionserfüllung von Medien in demokratischen Gesellschaften werden in der Diskussion aufgrund ihres universalistischen Zugangs als unzeitgemäß zurückgewiesen. Obwohl die grundsätzliche Bedeutsamkeit der drei Kriterien, also der Offenheit des Zugangs für Personen und Themen, der Reziprozität von HörerInnen und SprecherInnen und die Diskursivität von Kommunikation, im Verlauf der Diskussion immer wieder betont werden, überwiegen Zweifel über die Einlösbarkeit dieses Ideals. Als problematisch wird hier insbesondere die Nicht-Berücksichtigung ungleicher Machtstrukturen in heterogenen Gesellschaften angesehen. Dementsprechend sei auch der Zugang zu medialer Präsenz und Repräsentation strukturell ungleich und durch Machtgefälle und Interessen geprägt.
Welche Rolle spielen nun vor diesem Hintergrund virtuelle ethnisch definierte Räume im Internet für die zweite Generation der ‘MigrantInnen’? Welche Funktionen können sie erfüllen und wo liegen ihre Grenzen? Können sie ihren NutzerInnen vielleicht sogar als Alternative gegenüber den Medien der Mehrheitsgesellschaft dienen, die ihnen nur begrenzt Zugang bieten?
Virtuelle Räume, wie theinder.net oder die asia-zone.de dienen vor allem als Räume der Kommunikation und Interaktion. Besonders ist hier, dass die BenutzerInnen der Seiten eigene nicht-kolonialisierte Strukturen so aufbauen können, wie sie ihren Bedürfnissen entsprechen. ‘Ethno-Medien’ sind in diesem Sinne also in erster Linie eigene selbst gestaltete Medien bzw. Räume. Ein Beispiel der Soziologin und Sozialanthropologin Heike Greschke von der Universität Bielefeld verdeutlicht diesen Aspekt besonders gut. Sie beschreibt, wie paraguayische ‘MigrantInnen’ in Buenos Aires ein eigenes Solidaritätsnetzwerk im Internet geschaffen haben, welches als Zusatzraum zu den Netzwerken und ethnisch strukturierten 'paraguayischen' Räumen, die es bereits in der Stadt gab, und die von anderen, älteren 'paraguayischen’ MigrantInnen kreiert und besetzt wurden, fungiert. Virtuelle Räume von ‘MigrantInnen’ (der zweiten Generation) sind selbst gestaltete Strukturen, welche andere Subjektpositionen zulassen. So kommt es beispielsweise auf theinder.net dazu, dass die MacherInnen der Seite als ExpertInnen gehört werden. Somit treten sie aus der passiven Rolle derjenigen heraus, über die üblicherweise berichtet wird. Sie wandeln sich vom Gegenstand der Berichterstattung zu AkteurInnen im öffentlichen Raum. Ein Beispiel der Sozialanthropologin Synnøve Bendixsen zeigt, dass virtuelle Räume zudem neue Formen der Ko-Präsenz zulassen, die im reellen Raum nicht möglich sind. Muslimische Frauen und Männern, die ansonsten Geschlechtertrennung praktizieren, können sich zum Beispiel durch E-Mail- oder Chat-Gespräche in einem privaten Raum kennen lernen, ohne dass sie dabei physisch in einem Raum alleine zusammen sind. Eine Form der Interaktion, die anders nicht möglich wäre.
Es scheint auch ein wichtiger Bestandteil der virtuellen Räume zu sein, dass sie die Möglichkeit bieten, sich unter ‘Gleichen’ zu treffen. Im Forum der Internetcommunity asia-zone.de ‘treffen’ sich beispielsweise junge Menschen mit ost- oder südostasiatischem Migrationshintergrund und tauschen sich mit anderen jungen ‘AsiatInnen’ über alltägliche und aktuelle Themen aus. Die Tatsache, dass ihre Eltern aus sehr verschiedenen Ländern immigriert sind, scheint dabei nicht der Annahme zu widersprechen, dass die anderen NutzerInnen der Seite ähnliche Erfahrungen und Interessen wie sie haben. Ihre Gemeinsamkeit liegt darin, dass sie von der ‘deutschen’ Öffentlichkeit als homogene Gruppe von ‘AsiatInnen’ angesehen werden und auch als solche Othering und Diskriminierung erfahren. Auf der asia-zone.de können die NutzerInnen daher davon ausgehen, dass sie der Norm entsprechen und nicht zu Anderen gemacht werden.
Einige TeilnehmerInnen des Workshops äußerten im Verlauf der Diskussion die Befürchtung, dass mit solchen Medien „Nischen gefeiert werden“, die parallel zur Mehrheitsgesellschaft existieren. Jene ethnisch definierten Räume, so die Befürchtung, ziehen am ehesten ein bonding nach sich. Das bedeutet, dass sie exklusiv und segregierend funktionieren, und ‘Gleiche’ zusammen schweißen, anstatt Anschluss an die Mehrheitsgesellschaft und mehrheitsgesellschaftliche Themen zu suchen (bridging). In der Diskussion wurden ‘Ethno-Medien’ immer wieder auf ihre Anschlussfähigkeit an die Mehrheitsgesellschaft überprüft. Dieser Diskussion lagen vor allem die drei Typen medialer Integration von ethnischen Minderheiten nach Rainer Geißler (2005) zugrunde, die hier kurz vorgestellt werden sollen, um die an ihnen geübte Kritik einordnen zu können.
Geißler unterscheidet zum einen die ‘assimilative mediale Integration’, bei der ethnische Minderheiten zwar an den Mehrheitsmedien beteiligt werden, ihre ethno-spezifischen Besonderheiten jedoch nicht beachtet und auch keine ethno-spezifischen Inhalte produziert werden. Am gegenüberliegenden Pol verortet Geißler die ‘mediale Segregation’. Bei diesem Typ sind ethnische Minderheiten nicht in den Mehrheitsmedien vertreten und werden durch diese lediglich negativ thematisiert, indem sie beispielsweise als Problemgruppen dargestellt werden. Die ethnischen Minderheiten selbst nutzen in diesem Fall sogenannte ‘Ethno-Medien’ die am ‘Herkunftsland’ orientiert sind und in der Sprache des ‘Herkunftslandes’ bzw. im ‘Herkunftsland’ selbst produziert werden. Der letzte Typ nach Geißler ist der der ‘interkulturellen medialen Integration’. Hier sind die ethnischen Minderheiten proportional in den Mehrheitsmedien vertreten, mediale Inhalte sind vielseitig und leisten einen Beitrag zur aktiven Akzeptanz und Toleranz von Minderheiten und deren Anerkennungsansprüchen. Mehrheits- und ‘Ethno-Medien’ werden im Fall der ‘interkulturellen medialen Integration’ komplementär genutzt, wobei ‘Ethno-Medien’ fremd- oder zweisprachig funktionieren können. Baringhorst sieht in der ‘deutschen’ Medienlandschaft keinen der drei Typen als erfüllt an. Sie betont dabei insbesondere Defizite bei der medialen Integration von ethnischen Minderheiten. Die Beseitigung der Defizite sieht sie als Notwendigkeit an.
In der Diskussion wurde allerdings infrage gestellt, ob die Ideen der medialen Integration als Ideal und der medialen Segregation als Gefahr angemessen sind.
Die Triade von Geißler wurde daher kontrovers diskutiert. Unter anderem wird betont, dass es die Öffentlichkeit nicht gibt. Die Öffentlichkeit von Medien in Deutschland ist nicht so homogen, wie es die Unterscheidung zwischen Öffentlichkeit und Teilöffentlichkeiten/Nischenmedien nahe legt. Dementsprechend kann es auch keine Integration von Teilen in ein homogenes Ganzes geben. Die Vorstellung, dass es Mehrheitsmedien gibt, in die sich ethnische Minderheiten zu integrieren hätten, verschleiert die verschiedenen Machtpositionen in der Gesellschaft und die Tatsache, dass es eine Frage der Definition ist, was legitim dazu gehört und was nicht – wer also als Teil des Mainstream zählen darf und wer als außenstehend betrachtet wird. So ist auch der Medienmarkt viel fragmentierter, als es das Modell der medialen Integration vorsieht. Medienkonsum ist von daher immer mehrschichtig und findet in vielen sich überlappenden Räumen statt.
An dieser Stelle setzt auch die Kritik an der Idee einer (medialen) Segregation an. Der Begriff Segregation suggeriert, dass einzelne Teilöffentlichkeiten getrennt voneinander existieren und dass keine Anknüpfungspunkte zwischen ihnen vorhanden sind. Mehrheitsmedien, so die Auffassung, beschäftigen sich nicht mit Minderheiten und ‘Ethno-Medien’ beschäftigen sich nicht mit der Mehrheitskultur. Es wird davon ausgegangen, das die ‘Ethno-Medien’ Parallelgesellschaften bilden, in denen die Positionen der Mehrheit nicht ausreichend vertreten sind, und gleichzeitig durch sie die Minderheitenpositionen nicht ausreichend in der Öffentlichkeit vertreten werden. Der Begriff der Parallelgesellschaft, so Mecheril, ist aber genau genommen unmöglich, da er sich im Sprechen darüber, das heißt in der gegenseitigen Bezugnahme, selbst auflöst.
Der Idealtyp der medialen Integration erscheint aber ebenso fragwürdig. Beispiele von einzelnen JournalistInnen oder ModeratorInnen, die in den Mainstream-Medien Karriere gemacht haben zeigen, dass dies nicht für eine gleichberechtigte Teilhabe ausreicht. Angehörige ethnischer Minderheiten müssen in den Medien immer noch häufig für exotisierende und rassistische Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft herhalten. Selten haben sie prestigereiche Funktionen inne. Des weiteren wird in der Diskussion betont, dass individuelle Erfolge einzelner Personen nicht mit einer kollektiven Akzeptanz von ethnischen Minderheiten verwechselt werden darf.
Ethnisch definierte virtuelle Räume wie theinder.net haben – entgegengesetzt zu der Annahme der Segregation durch ‘Ethno-Medien’ – viele intertextuelle Anschlüsse an Mehrheitsdiskurse, da der Lebensmittelpunkt der NutzerInnen der Seite in Deutschland liegt. Sie finden auf verschiedenste Art und Weise statt wie Goel zeigt: So werden aktuelle Themen aus deutschen Medien diskutiert. Andere Internetangebote und auch Mainstream-Medien, wie die Seite des Nachrichtenmagazins Tagesschau, werden verlinkt, zitiert, kritisiert und auch parodiert. Das sind laut Goel und dem Sprachwissenschaftler Jannis Androutsopoulos Anzeichen für einen breiten diskursiven Anschluss an die mehrheitsgesellschaftliche Öffentlichkeit.
Bonding, so wird in der Diskussion argumentiert, sollte nicht als Form der ‘Segregation’ sondern viel eher als eine Vorraussetzung für die geforderte Diskursivität gesehen werden. Gerade die Subjektposition der aktiv Gestaltenden ermöglicht es ihnen, dem assimilierenden und exotisierenden Mainstream entgegen zu wirken. So können ‘Ethno-Medien’ als Instrumente eines Empowerment begriffen werden.
Das Input von Zurawski und die anschließende Diskussion über Virtualität zeigten, dass der Begriff ‘virtuell’ vieldeutig und uneindeutig benutzt wird. In der Diskussion wurde deutlich, dass eine Eingrenzung und Definition des Begriffs schwer fällt. Er wird folglich für viele verschiedene Phänomene verwendet: So steht er mal für künstlich, ein anderes mal für elektronische Medien und meistens für das Medium Internet im allgemeinen. Zurawski betont, dass virtuelle Räume oft fälschlicherweise mit digitalen bzw. künstlichen Räumen gleichgesetzt werden. Im Gegensatz zu künstlichen Räumen eröffnen sie aber Erfahrungs- und (Aus-) Handlungsspielräume. Handlungen in künstlichen Räumen, wie zum Beispiel in Videospielwelten, haben, so Zurawski, im Gegensatz zu Handlungen in virtuellen Räumen, keine realen Konsequenzen.
Im Laufe der Diskussion wurde infrage gestellt, ob die Unterscheidung zwischen virtuell und physisch/reell beim Reden über Räume der zweiten Generation überhaupt sinnvoll ist. Es wurde angeregt, stattdessen zwischen verschiedenen Formen sozialer Anwesenheit zu unterscheiden. Greschke schlug vor, zwischen Ko-Präsenz und Nicht-Ko-Präsenz zu differenzieren bzw. Anwesenheit grundsätzlich als graduell zu begreifen. Bendixsen wiederum machte an verschiedenen Beispielen zu virtueller Kommunikation deutlich, dass der Begriff ‘virtuell’ wenig zur Analyse der verschiedenen Phänomene beiträgt. So ist es beispielsweise ein Unterschied, ob in einem deutschen Chatroom über den Irak gesprochen wird oder ob mit dem Irak gesprochen wird. Beides sind virtuelle Kommunikationen, sie sind aber völlig unterschiedlich zu betrachten. Wieder anders ist der Fall, in dem die in physischen Räumen geltende Geschlechtersegregation durch eine E-Mail-Bekanntschaft zwischen einer muslimischen Frau und einem muslimischen Mann regelkonform umgangen werden kann. Die die Forschung interessierenden Handlungen, die in virtuellen Räumen statt finden, können mit dem Begriff ‘virtuell’ also nicht adäquat beschrieben werden und müssen daher entlang anderer Differenzlinien untersucht werden.