Desis in Deutschland / Ausgrenzung und Zugehörigkeit
Im Jahre 1975 beantragte Frau Agarwal die deutsche Staatsbürgerschaft für ihre in Deutschland geborenen Kinder. Die Tatsache, dass ihre Kinder die deutsche Staatsbürgerschaft nicht mit Geburt bekommen hatten, war eine weitere staatliche Handlung, die sie als Diskriminierung erlebt hat: „Das verstehe ich zum Beispiel bis heute nicht, wenn diese Kinder unehelich geboren wären, wären sie Deutsche gewesen, da sie ehelich geboren wurden, waren sie Nicht-Deutsche. Also das ist eine Art von Diskriminierung, die mir bis heute nicht einleuchtet.“
Die rechtliche Regelung von Staatsbürgerschaft und Einbürgerung hat sich in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland immer weiterentwickelt. Wie bereits beschrieben, gab es Anfang der 1970er neue Einbürgerungsrichtlinien und ab 1975 wurden Kinder deutscher Mütter denen deutscher Väter gleichgestellt. Der Staat tolerierte zumeist stillschweigend, wenn Kinder durch ihren ausländischen Elternteil eine zweite Staatsbürgerschaft erwarben. Seit dem Jahr 2000 erhalten nun auch Kinder mit zwei ausländischen Elternteilen unter bestimmten Bedingungen die deutsche Staatsbürgerschaft mit Geburt. Sie müssen sich jedoch bis zum Alter von 23 Jahren für eine der beiden entscheiden. Die Ermessenseinbürgerung, die zu der Zeit als Herr Agarwal seinen Antrag stellte noch die Regel war, ist mittlerweile in vielen Fällen einer Anspruchseinbürgerung gewichen. Ein ausländischer Staatsbürger erwirbt dabei über Aufenthaltsdauer und einige andere Anforderungen einen Anspruch auf Einbürgerung. Für die zweite Generation bestehen besondere, relativ leicht zu erfüllende Regeln. Mit der Einbürgerung in Deutschland verliert man allerdings nach wie vor in der Regel seine ursprüngliche Staatsbürgerschaft. Der indische Staat ist in dieser Frage noch konsequenter und kannte bis vor kurzem gar keine doppelte Staatsbürgerschaft. In den letzten Jahren wurde aber auch das indische Staatsbürgerschaftsrecht liberalisiert, für StaatsbürgerInnen mancher Länder – nicht allerdings für Deutsche – wird jetzt eine doppelte Staatsbürgerschaft erlaubt. Ehemalige indische StaatsbürgerInnen und die Kinder von indischen StaatsbürgerInnen können zudem mittlerweile eine PIO Card (Person of Indian Origin) beantragen und haben dann, gegen eine Gebühr, auf 15 Jahre ähnliche, wenn auch nicht die gleichen, Rechte wie indische Staatsbürger.
„InderInnen“ der zweiten Generation werden in alltäglichen Begegnungen – und
auch in Interviews, wie etwa den von mir 1998 geführten – immer wieder dazu
gedrängt, sich selber national zu definieren (vgl. Battaglia 1995). Sie werden
gefragt, ob sie indisch oder deutsch seien. Es wird ihnen gesagt, dass sie gar
nicht deutsch oder indisch seien, etc. Diese Begriffe werden alltäglich benutzt,
auch wenn ihre Anwendbarkeit problematisch und nicht eindeutig ist. In meinen
Interviews 1998 habe ich sie selbst noch viel unkritischer verwendet als bei den
Folgeinterviews 2003/2004. „Indisch“- oder „Deutsch“-Sein hat auch etwas mit
Staatsbürgerschaft zu tun. Im Fall der Agarwals war zu sehen, dass zum einen der
Staat dies so sieht und dass zum anderen eine besondere Beziehung zu der
Staatsbürgerschaft besteht, mit der man aufgewachsen ist. Im Folgenden soll nun
diskutiert werden, welche Bedeutungen Staatsbürgerschaft und Einbürgerung für
die zweite Generation „InderInnen“ in Deutschland haben, insbesondere für ihr
Gefühl der Zugehörigkeit.
Die folgende Analyse beruht auf Interviews, die ich 1998 für meine
Masters-Arbeit geführt habe sowie auf weiteren Interviews im Winter 2003/04.
Zusätzlich nutze ich Interviews und informelle Gespräche, die ich 2003/04 zu
anderen Zwecken geführt und dokumentiert habe. Im Gegensatz zum Fall Agarwal
kommen hier viele unterschiedliche Stimmen zu Wort, werden verschiedene
Perspektiven eröffnet. Die einzelnen InterviewpartnerInnen können damit
allerdings auch nicht mehr in ähnlicher Dichte vorgestellt werden. So ändert
sich auch der Stil der Analyse und Darstellung. Gemeinsam ist den beiden
Diskussionen aber, dass es um Auseinandersetzungen mit dem Thema
Staatsbürgerschaft und Einbürgerung geht. In der Fallstudie Agarwal ging es um
einen Migranten der ersten Generation, nun geht es um die nächste, die zweite
Generation. Dabei kommen am Rande auch die Kinder der Agarwals vor.
Wie viele andere Kinder von keralesischen Krankenschwestern hat der 1976 geborene Jose Medizin studiert. Beim Interview 1998 besaß er noch die indische Staatsbürgerschaft, hatte sich jedoch bereits ausführlich über die Einbürgerungsformalien informiert. Er begründete seinen Einbürgerungswillen mir gegenüber vor allem mit beruflichen Gründen. Er vermutete, dass er bessere Anstellungschancen als Arzt im Praktikum habe, wenn er deutscher Staatsbürger sei. Außerdem erhoffte er sich als deutscher Staatsbürger mehr Sicherheit bei Auslandsreisen, da er den deutschen Botschaften mehr Unterstützung zutraue als den indischen. Gerne würde er den Wehr- bzw. Zivildienst in Deutschland vermeiden. Prinzipiell halte er ihn zwar für eine gute Sache, wolle aber das Jahr nicht verschwenden. Trotzdem hatte er vor, sich noch vor seinem 23. Geburtstag zu entscheiden, da bis zu diesem Alter die vereinfachten Einbürgerungsregeln für die zweite Generation gelten. Im Jahre 2003 erzählte er mir dann, dass er tatsächlich seit 1999 die deutsche Staatsbürgerschaft besitze. Er wiederholte die gleichen, mir gegenüber vorher geäußerten, pragmatischen Gründe hierfür und betonte dabei insbesondere den Wert der Rechtssicherheit. Mittlerweile hatte er sein Medizinstudium abgeschlossen und vor, seinen Wehrdienst als Arzt abzuleisten, möglicherweise auch bei einem Auslandseinsatz.
Wie Jose stellen viele „InderInnen“ der zweiten Generation aus pragmatischen Gründen einen Einbürgerungsantrag. Gerade bei den Studierenden der Medizin sind berufliche Überlegungen ausschlaggebend. Häufig genannt werden außerdem Erleichterungen beim Reisen und das Ausnutzen der erleichterten Regelungen bis zum Alter von 23 Jahren. Wenige zeigten sich allerdings in den Interviews so gut informiert über die Formalien und ihre Folgen wie Jose. Die Frage des Wehr- oder Zivildienstes ist für viele junge Männer ein Grund, die Entscheidung hinauszuschieben. So hat sich der Student der Journalistik Sibi, der 1981 geboren wurden, 2003 zwar für die Einbürgerung entschieden, den Antrag aber noch nicht gestellt mit der Begründung: „wenn die Sache mit dem Wehrdienst nicht wäre, dann hätte ich schon längst den deutschen Pass“.
Die 1980 geborene Kanika wurde als Neunjährige gemeinsam mit ihren Eltern eingebürgert. Im Interview 1998 begründet sie diesen Schritt ihrer Eltern mit pragmatischen Gründen. 2003 ist der BWL-Studentin schon gar nicht mehr bewusst, dass sie nicht als deutsche Staatsbürgerin geboren wurde. Auf die Frage nach der Bedeutung der deutschen Staatsbürgerschaft für sie antwortete die damals achtzehnjährige Schülerin, sie sei „nicht direkt stolz“ aber es gebe ihr die „Gewissheit, dass ich nicht Bittsteller bin, da ich dazu gehöre“. Die gleichaltrige Mary und damalige Azubi begründete 1998 ihren ein Jahr zuvor gestellten Einbürgerungsantrag mit dem Gefühl der Zugehörigkeit zu Deutschland, pragmatischen Gründen gab sie mir gegenüber eine untergeordnete Rolle. Sie beklagte sich allerdings darüber, dass die Behörden so tun, „als ob es eine Riesenentscheidung wäre“, die „machen eine zu große Sache daraus“. Dabei bezog sich Mary vor allem auf das Formular, in dem sie ihren Antrag begründen musste.
Nicht nur der Erweb von Rechten und Pflichten in Deutschland sondern auch der Erhalt dieser in Indien spielt für einige aus der zweiten Generation eine wichtige Rolle. Die 1970 geborene Savita, die im entwicklungspolitischen Bereich arbeitet, lebt als indische Staatsbürgerin in Deutschland. Im Gegensatz zu den meisten anderen der zweiten Generation, hat sie in Indien studiert und sich dort auch politisch engagiert. Sie wolle dazu auch in Zukunft die Möglichkeit haben und sich, wenn möglich, beruflich auf Indien ausrichten. 1998 erzählt sie mir von politisch aktiven nicht-indischen Staatsbürgern, die Schwierigkeiten bei der Einreise nach Indien hatten. Das wolle sie nicht riskieren und daher auch die indische Staatsbürgerschaft nicht aufgeben.
Der 1966 in Österreich geborene Raju, Sohn einer Deutschen und eines Inders aus Orissa, arbeitet seit drei Jahren für eine internationale Organisation in Indien. Im Jahr 2004 beantragte er die PIO Card, die es 1998 noch nicht gab. Durch sie wollte er sich die gleichen Rechte wie ein indischer Staatsbürger – mit Ausnahme des Wahlrechts – an seinem Wohn- und Dienstort sichern. Raju wurde als indischer Staatsbürger geboren und hatte die indische Staatsbürgerschaft aufgrund seiner Einbürgerung 1975 mit 18 Jahren verloren. Schon ein Jahr vor Raju hatte der 1980 in Indien geborene und noch im gleichen Jahr von Deutschen adoptierte Student der Indologie, Ashvin, die PIO Card beantragt. Da er nach eigenen Angaben häufig nach Indien fährt, ging es auch ihm, wie Raju, darum, sich Rechte in Indien zu sichern. Er benannte diese allerdings nicht näher und fügte auf Nachfrage hinzu, dass er die PIO Card zunächst nur als Visumersatz nutze.
Ausschlaggebend für die Entscheidung zur Einbürgerung, beziehungsweise zum Antrag auf eine PIO Card, genauso wie gegen die Aufgabe der indischen Staatsbürgerschaft, sind häufig Fragen von Rechten und Pflichten. Sie geben einem greifbare, gut formulierbare Gründe mit der die eigene Entscheidung getroffen oder hinausgeschoben werden kann.
Pragmatische Überlegungen, der rechtliche Status als Ausländer in
Deutschland, das Beantragen von Visa für Reisen oder die Notwendigkeit, eine
Ehefähigkeitsbescheinigung beizubringen, sind für Anand keine Gründe, sich in
Deutschland einbürgern zu lassen. Eine Änderung der Staatsbürgerschaft würde er
nur in Betracht ziehen, „wenn es wirklich nötig ist“, wie er es im Interview
2004 formuliert. Wirklich nötig könnte es für ihn eigentlich nur dann werden,
wenn es zu einer massiven „Verschlechterung auf dem Arbeitsmarkt“ komme und
diese nicht durch etwas bürokratischen Aufwand zu beheben seien. Anand sagt
2004, dass er wie schon 1998 „immer noch Inder“ sei und „das bleibt auch so“.
Für ihn ist die Staatsbürgerschaft „ererbt“ und er „gibt sie nicht ab ohne Not“.
Der Ingenieur Anand wurde 1967 in Deutschland geboren. Seine Mutter ist
Deutsche, sein Vater stammt wie der Rajus aus Orissa. Er hat sein Leben lang in
Deutschland gelebt, ist selten in Indien und bezeichnet sich als evangelisch. Im
Gegensatz zu Raju wurde er aber bei der Gesetzesänderung 1975 nicht
eingebürgert. Anand beschreibt sich 2004 als „Inder mit ein paar typisch
deutschen Angewohnheiten“. Bei beiden Interviews 1998 und 2004 antwortet er im
Gegensatz zu den meisten anderen Befragten nur ganz knapp auf meine Fragen rund
um Staatsbürgerschaft. Sie scheinen nicht seine zu sein, er hat sich nach
eigener Auskunft nie Gedanken über eine Einbürgerung gemacht, ist mit seiner
Situation zufrieden und definiert seine nationale Zugehörigkeit über seine
Staatsbürgerschaft. Damit unterscheidet er sich von allen anderen Befragten aus
binationalen Familien, die aus ähnlichen sozialen Umständen kommen wie er und,
soweit ich das beurteilen kann, einen ähnlichen, wenn nicht sogar stärkeren
praktischen Bezug zu Indien haben. Sie aber wurden eingebürgert beziehungsweise
schon als deutsche StaatsbürgerInnen geboren und fühlen sich nicht als „InderInnen“,
auch wenn die meisten sich in irgendeiner Weise mit ihrer „indischen“ Herkunft
auseinander setzen und sie zum Teil der Verlust der indischen Staatsbürgerschaft
schmerzt. Einigen von ihnen ist die deutsche Staatsbürgerschaft wichtig und sie
sind sich bewusst, wie „zufällig“ sie Deutsche geworden sind. Ihre Eltern hätten
wie Anands auch auf ihre Einbürgerung verzichten können.
„Total deutsch“ fühlt sich der Informatiker Debraj in beiden Interviews. Wie
Anand ist er evangelisch, in Deutschland geboren und hat immer dort gelebt. Auch
seine Mutter stammt aus Deutschland, sein Vater kommt aus Bengalen. Er wurde
1975 mit der deutschen Staatsbürgerschaft geboren, seine Eltern haben keine
indische für ihn beantragt. 2003 äußert er, dass sein deutscher Pass für ihn
bedeutend sei, da er sich als „Deutscher“ fühle und „da jeder Deutsche seinen
deutschen Pass hat“. Es ist „mehr als nur ein Dokument“ für ihn, er kann sich
damit als „Deutscher“ ausweisen, denn der „deutsche Pass ist ein Zeichen“, dass
er sich „auf den Staat eingelassen hat“, dass er dazu steht. Die deutsche
Staatsbürgerschaft ist für Debraj ein Zeichen der bewussten Zugehörigkeit zu
Deutschland.
Debraj und Anand sind sich nach meiner Beobachtung in vielen Dingen sehr
ähnlich. Beide definieren, im Gegensatz zu den meisten anderen Interviewten,
ihre nationale Zugehörigkeit vor allem durch ihre Staatsangehörigkeit. Die
beiden unterscheiden sich allerdings in dieser. Der eine fühlt sich in
Deutschland lebend als Inder, der andere als Deutscher. Den deutschen
beziehungsweise indischen Pass verdanken sie dabei nur der Zufälligkeit ihrer
Geburt vor oder nach 1975. Die Staatsbürgerschaft und damit die durch sie
definierte nationale Zugehörigkeit ist also nicht etwas zwangsläufig ererbtes,
sondern abhängig von der rechtlichen Situation und den Entscheidungen der
Eltern.
Anand und Debraj antworten mir in den Interviews 1998 und 2003/2004 mit fast exakt den gleichen Aussagen. Auch Savita und Jose haben ihre Einstellung zu Staatsbürgerschaft und Einbürgerung in den Jahren nicht wesentlich verändert, obwohl sich in der Zwischenzeit vieles geändert hat. So ist Jose etwa mittlerweile eingebürgert und Savita Mutter geworden. Nicht alle Befragten aber weisen diese Stabilität in ihrem Gefühl der Zugehörigkeit über diesen Zeitraum aus. So war Joses ältere Schwester 1998 noch gegen eine Einbürgerung, weil sie sich „mehr zu Indien zugehörig“ fühlte und 2004 rückblickend sagt, dass sie „früher das Gefühl hatte, dass ich mit der Einbürgerung ein Stück weit meine indische Mentalität verlieren würde“. Die Medizinstudentin hat sich dann aber aus pragmatischen Gesichtspunkten heraus mit ihrem Bruder einbürgern lassen und sagt 2004, dass es die richtige Entscheidung war, da ihre Identität „jetzt nicht mehr am Pass hängt“. Das unterscheidet sie von der 1975 geborenen Medizinerin Rupashi. Sie hatte 1997 aus pragmatischen Gründen die Einbürgerung beantragt, und gedacht, es sei „nur ein Papierwechsel“. Sie merkte dann aber, dass sich etwas geändert hatte, dass sie jetzt „Deutsche“ sei und daher nicht mehr „so desinteressiert“ und gegen Deutschland eingestellt sein könne. Es „ist jetzt mein Land“ und „ich soll das mehr akzeptieren“, „nicht nur die Vorteile, sondern auch mal die eigenen deutschen Teile konfrontieren“, „nicht immer abwehren“. Sie erkannte erst nach der Einbürgerung, ähnlich wie Joses Schwester, dass diese kein Verlust der „indischen“ Identität ist und verstand sie 1998 sogar als Bereicherung.
Auch die 1978 in Indien geborene Medizinstudentin Sita fühlte sich 1998 nicht richtig zu Deutschland zugehörig. Darüber, dass sie schon 1990 zusammen mit ihren Eltern eingebürgert wurde, war sie nicht wirklich zufrieden. Für sie war die Staatsbürgerschaft ein Symbol, „dass ich irgendwo richtig hingehöre“. Sie sollte „mein Land, meine Leute“ symbolisieren, den Ort an den sie „immer hingehen kann ohne Probleme“, „ohne aufzufallen“. Daher sagte sie mir, dass sie überlege, die indische Staatsbürgerschaft wieder anzunehmen. 1998 widmete sich Sita dem klassischen indischen Tanz, trug bewusst indische Kleidung, und seitdem sie 16 Jahre alt war, immer einen roten Punkt auf der Stirn. Im Jahr 2004 zeichnete sie im Interview ein ganz anderes Bild von sich. Sie sagt, dass sie ihre Indienverbundenheit nicht mehr zeigen müsse, da „ich weiß was ich bin“. Wie Joses Schwester sagt sie, dass sich ihre Identität in den Jahren gefestigt habe und schließt daraus, dass sie jetzt weder diese äußerlichen Zeichen noch die Staatsbürgerschaft als Symbol brauche. Zudem sagt sie, dass sie sich in ihrem „Deutschsein gefestigt“ habe. Dabei habe ihr insbesondere ein Schlüsselerlebnis geholfen. Sie erzählt, dass sie im Krankenhaus immer gefragt werde, „woher ich komme“, „wann ich wieder zurückgehe“, etc. Darauf habe sie nie reagiert, „da man sehen kann, wie es gemeint ist“. Einmal war sie im Operationssaal mit Mundschutz, da fragte der Arzt gleich nach dem „Guten Tag“ woher sie komme. Sie habe erst etwas zögernd reagiert. Ein schon älterer OP-Pfleger, ein ganz kräftiger mit Vollbart, den sie sehr sympathisch fand, habe das gesehen und sei auf sie zugekommen, habe den Arm um ihre Schulter gelegt und auf ihren Arm geklopft und gesagt: „Das, das ist doch eine Deutsche, das sieht man doch!“. Das fand sie „so nett“, „so sollte es sein“ und durch solche Erlebnisse könne sie sich zu Deutschland zugehörig fühlen.
Danny, die 1981 geboren und 1997 mit ihrer Familie eingebürgert wurde, hatte im Gegensatz zu Sita 1998 als Schülerin gesagt, dass sie die Einbürgerung gewollt und diese ihr „einfach nur gefallen“ habe. Sie führte aus, dass sie „sich vorher schon nicht als Inderin gefühlt“ habe, in Indien und der indischen Gemeinschaft in Deutschland fühlte sie sich fremder als in Deutschland und unter Deutschen. 2003 sieht sie das ganz anders, sie ist mittlerweile zu Hause ausgezogen und studiert BWL. Getrennt von ihren Eltern „sehe ich jetzt was sie gebracht hat, die zweite Kultur“, sie sieht das „Indische“ jetzt als eine Bereicherung. Sie sagt jetzt „ich bleibe im Herzen vom Ursprung her Inderin, da ändert der Pass auch nichts“. Angesprochen auf den Gegensatz zum früheren Interview, erläutert sie, dass es schon sein könne, dass sie sich damals mehr als Deutsche gefühlt habe. Aber inzwischen „entwickelt sich Stolz“ auf Indien, auf seine Musik, Ayurveda, auf das, was ihre Eltern als MigrantInnen geleistet haben, und das habe sie „gestärkt ‚Ich bin Inderin’“ zu sagen. Über das enge Verhältnis zu zwei Freundinnen aus der zweiten Generation sagt sie, das „ist das Inderding“, es bestehe mehr Zugehörigkeitsgefühl mit ihnen als mit „deutschen“ FreundInnen. Dabei scheint sie sich aber nicht in „indische“ Kontakte zurück zu ziehen. Ihr Freund, erwähnt sie beiläufig, sei Franzose.
Eine Einbürgerung, beziehungsweise die Überlegungen über eine solche, beeinflusst das Gefühl der Zugehörigkeit in unterschiedlicher Weise. Wenn sie selbständig beantragt wird, dann ist es ein Zeitpunkt an dem sich die AntragstellerIn mit ihrem Gefühl der Zugehörigkeit auseinander setzen muss. Unter anderem auch, weil, wie Mary es formuliert, die deutschen Behörden da eine „Riesenentscheidung“ draus machen. Nach der vollzogenen Einbürgerung erfahren dann die Befragten, wie auch Herr Agarwal, häufig, dass ein befürchteter Verlust von „indischer“ Identität nicht eingetreten ist und das Symbolische der Staatsbürgerschaft löst sich auf. Bei jenen, die mit ihren Eltern eingebürgert wurden, spielt das Symbolische eine geringere Rolle, die Auseinandersetzung mit ihren nationalen Identitäten und ihren Gefühlen der Zugehörigkeit läuft unabhängig von Staatsbürgerschaft und Einbürgerung.
So wie Sita 1998 die indische Staatsbürgerschaft als eine symbolische Verbindung zu Indien sah, sprach sich auch Sibi im ersten Interview 1998 mit der Begründung „ich möchte Inder bleiben“ gegen eine Einbürgerung aus. Gleichzeitig sagte er, dass er sich Indien nicht zugehörig fühle und auch mit der indischen Gemeinschaft in Deutschland wenig anfangen könne. Aber bzw. gerade deswegen ist die indische Staatsbürgerschaft „offiziell das einzige, das mich mit Indien verbindet“. Diese Verbindung wolle er beibehalten, denn „die deutsche Identität ist der Alltag“ und damit „sowieso schon überwiegend“.
Auch der 1982 geborene Mahesh, der sich künstlerisch und politisch links engagiert, sagt 2004, dass das „Deutsche“ im Alltag dominant sei. Für das „Indische“ gebe es nicht viel Platz und daher sei sein Festhalten an der indischen Staatsbürgerschaft „vielleicht eine Selbstdisziplinierungsmaßnahme, um mich mit meiner indischer Identität auseinanderzusetzen“. „Indische“ Identität bezeichnet er als eine „kulturelle Identität, die mir nicht eigen, aber auch nicht fremd ist“. Angesprochen auf Anands Definition seiner nationalen Zugehörigkeit über die indische Staatsbürgerschaft vermutet er, dass auch Anand sich irgendwie mit seinem biographischen Bezug zu Indien auseinandersetzen muss, da der Alltag aber „deutsch“ sei, es „bequemer ist, das Indische in einem selbst in einen Pass zu projizieren“. Diese Vermutung über Anand begründet er mit seiner eigenen Erfahrung: „Das war bei mir so.“ Mahesh stört sich aber daran, dass sie so „das Nationalismuskonzept der Deutschen mit der Beibehaltung des Passes akzeptieren“. Er sagt zu sich selbst, dass er „mittlerweile ein sehr gespaltenes Verhältnis zu Nationalismus und Grenzen“ habe und sich daher gar nicht mehr national definieren wolle. Er empfindet die eigene frühere und von ihm den anderen unterstellte Motivation zur Beibehaltung der indischen Staatsbürgerschaft letztendlich als „rassistisch“.
Einen Bezug zu Indien würde auch gerne die 1967 geborene Lehrerin Ninder, deren Vater aus dem Punjab und deren Mutter aus Deutschland kam, bewahren. Die 1975 eingebürgerte Mutter zweier Kinder sagt 2004 von sich, dass sie in ihrem völlig „deutsch“ geprägten Umfeld kämpfen muss, „damit ich nicht ganz eingedeutscht werde“. Ein Anzeichen für das „Eindeutschen“ ist, dass schon ihr Vater den indischen Nachnamen „deutsch“ ausgesprochen habe und sie bei einem Versuch, wieder die indische Aussprache anzunehmen, am Widerstand ihrer eigenen „deutschen“ Familie gescheitert sei. Als ich ihr von der PIO Card erzähle, ist sie erst verhalten, reagiert dann jedoch immer begeisterter. Sie sagt, die PIO Card „würde mich interessieren“ und wiederholt, die „würde mich echt interessieren“. Weniger aus pragmatischen Gründen, denn sie sieht kein Problem darin ein Visum für Indien zu bekommen und die anderen Rechte würde sie kaum nutzen können. Aber sie könnte so ihre „Verbundenheit mit dem Land dokumentieren“. Sie findet, dass sei „auch wichtig für die Kinder“. Sie will nicht, „dass in drei Generationen keiner mehr weiß, warum ab und zu einer dunkler ist“.
Der 1974 geborene Unternehmensberater Hemant, dessen Wahlheimat Deutschland ist, hat die PIO Card beantragt, weil er ein „offizielles Dokument der Zugehörigkeit“ wollte. Die „indische Kultur und Werte haben eine große Rolle in meiner Erziehung gespielt“, sagt der Sohn von aus Maharashtra und Andhra Pradesh stammender MigrantInnen in den USA. Aber er habe „nie ein Dokument gehabt“, dass seine Zugehörigkeit zu Indien darstelle. Erst habe er Sorge gehabt, dass seine Eltern seinen Antrag auf die PIO Card ablehnen würden. Denn seine Eltern waren dagegen, als er sich überlegte, den amerikanischen Pass für den deutschen aufzugeben. Seine Sorge sei aber unbegründet gewesen, seine Eltern wären sogar erfreut über sein Vorhaben gewesen und überlegen nun ebenfalls, die PIO Card zu beantragen.
Auch ich habe sie 2003 beantragt. Auslöser dafür war, dass ich innerhalb von
zwei Jahren zum vierten Mal aus dienstlichen Gründen ein indisches Visum
beantragen musste und mich sehr über den damit verbundenen Bürokratismus
geärgert habe. Beim dritten Antrag gaben sie mir im Konsulat die Formulare für
die PIO Card und so füllte ich diese beim vierten Mal anstelle des Visumsantrags
aus. Rein pragmatisch wird dieser Antrag aber nicht gewesen sein, es war schon
etwas Besonderes, nach fast zwanzig Jahren wieder so etwas wie einen indischen
Pass in den Händen zu halten und auch in Indien meine indische Herkunft
nachweisen zu können. Eine gewisse symbolische Verbundenheit zu Indien
projiziere sicherlich auch ich in dieses Dokument.
Wie ich scheinen viele „InderInnen“ der zweiten Generation überwiegend in einem
„deutschen“ Umfeld zu leben und weitgehend „deutsch“ sozialisiert zu sein. Viele
spüren aber trotzdem eine Verbindung zu Indien und die meisten scheinen die
Gefahr zu sehen, dass diese verloren geht. Daher wünschen sich viele ein
offizielles Dokument, dass ihre Verbindung zu Indien dokumentiert.
Die indische Staatsbürgerschaft könnte „eine Bestätigung dessen was ich so sonst nicht habe“ sein, „da ich nicht so indisch bin“, sagt auch die Indologin Ranji im Interview 1998. Denn „ein bisschen fühlt man sich noch als Inderin“, auch wenn sie in beiden Interviews klar sagt: „ich fühle mich als Deutsche“. Ranji, die 1967 als Tochter eines Bengalen und einer Deutschen geboren wurde, kannte wie Ninder beim Interview 2004 die PIO Card noch nicht. Erst meinte sie, sie „wäre interessant“, dann fügte sie allerdings in Bezug auf die Gebühren hinzu „aber nicht zu dem Preis“. Pragmatischen Nutzen hätte sie keinen besonderen durch sie, da sie nicht so oft nach Indien reise. Dieses Dokument könnte aber „vielleicht Zugehörigkeitsgefühl“ dokumentieren. Aber nur, wenn es kostenlos wäre, denn „für Zugehörigkeit zahlen ist unschön“. Sie findet eine „doppelte Staatsbürgerschaft wäre schon netter“. Die hätte sie gerne „aus Sentimentalität“ und weil es ihr etwa das Reisen zur Verwandtschaft in Assam erleichtern würde. Schon im Interview 1998 hatte sich Ranji für eine doppelte Staatsbürgerschaft ausgesprochen. Sie selbst hatte sie von 1975 bis zur Volljährigkeit. Sie sagt, sie sei „immer stolz auf die doppelte“ gewesen, die „etwas Besonderes“ war. Ihre „Eltern haben mir gesagt: ‚Du bist nicht halb, sondern doppelt!’“. Mit diesem Bild sei sie aufgewachsen, es wäre ihr immer bewusst gewesen, dass sie zwei Pässe habe und sie habe auch mit ihrem indischen Pass angegeben. Ihre deutsche Staatsbürgerschaft würde sie nicht abgeben, sie hätte aber gerne beide, um ihre doppelte Zugehörigkeit auszudrücken.
Die meisten Befragten sahen die doppelte Staatsbürgerschaft bei den Interviews als die ideale Lösung, um ihre hybriden, nicht in nationale Dichotomien passenden Identitäten darzustellen. So sagte Mary damals kurz nach ihrer Einbürgerung, dass sie diesen Schritt nur machen konnte, weil sie wusste, dass sie die indische Staatsbürgerschaft wieder beantragen könne: „Ohne die Möglichkeit, die indische wiederzubekommen, wäre die Entscheidung schwieriger gewesen.“ Sie wollte sich mit der Einbürgerung nicht gegen die Zugehörigkeit zu Indien aussprechen, denn „ich bin einerseits andererseits“. Am liebsten hätte sie die doppelte Staatsbürgerschaft gehabt. Im Interview 2003 gilt das für sie zwar immer noch, ist aber kein aktuelles Thema mehr für sie. Die Maschinenbaustudentin empfindet trotz der polarisierenden deutschen Diskussion um den Doppelpass „kein Gräuel gegen die Deutschen“, denn selbst wenn die „Deutschen“ ihn zulassen würden, könne sie keinen haben. Jemand habe ihr erzählt, dass die „Inder“ keine doppelte Staatsbürgerschaft akzeptieren und das habe ihre Haltung gegenüber den „Deutschen“ verändert. Die PIO Card ist für sie kein gleichwertiger Ersatz. Damit würde sie nicht „Inderin“, bliebe „Ausländerin“, bekäme nur Rechte, die sie nicht nutzen würde. Sie „muss den Anspruch voll und ganz haben“, sie will „nicht mit der Hälfte abgespeist werden“. Sie fragt mich: „Aber was habe ich davon wirklich?“, „Was bringt mir das?“. Für sie wäre die PIO Card endgültig der „Stempel: Ausländer in Indien“, das sei sie in Indien aber jetzt schon, „die riechen das“ und dann hätte sie das „auch noch in schriftlicher Form“. Das wolle sie nicht, „wenn ich den indischen Pass mit allem drum und dran wiederhaben könnte, dann ja“. Solange das aber rechtlich nicht möglich ist, sei das für sie auch kein Problem. Sie würde sich jetzt nicht besonders dafür einsetzen eine doppelte Staatsbürgerschaft zu bekommen, denn „im Alltag in Deutschland bringt mir das gar nichts“.
Mahesh hatte 1998 die Entscheidung für oder gegen eine Einbürgerung mit dem verbundenen Verlust der indischen Staatsbürgerschaft als eine „Entscheidung wie zwischen Vater und Mutter“ bezeichnet. Im Interview 2004 distanziert er sich von dieser Aussage, weil er sich wie oben ausgeführt von nationalen Kategorien abgewandt habe, aber er würde immer noch gerne die doppelte Staatsbürgerschaft haben. Die PIO Card sieht auch er nicht als Ausweg, denn „ich kann mich nicht für die Karte entscheiden, dann muss ich mich für die deutsche Staatsbürgerschaft entscheiden – vielleicht auch gegen die indische.“ Diese mit der Einbürgerung einher gehende notwendige Entscheidung gegen die indische Staatsbürgerschaft ist der wesentliche Grund, warum die meisten der Befragten sich für eine doppelte Staatsbürgerschaft aussprechen.
Auch Savita, die zur weiteren Ermöglichung von politischem Engagement in Indien die indische Staatsbürgerschaft nicht aufgeben will, sieht in der doppelten Staatsbürgerschaft die beste Lösung für sie. Sie sagt 2004, dass die PIO Card „kein Ersatz für die doppelte Staatsbürgerschaft“ sei, das sei „nicht was ich mir vorgestellt habe“. 1998 hatte sie die generelle Ermöglichung der doppelten Staatsbürgerschaft ohne Entscheidungszwang als Ideal dargestellt. Alternativ hatte sie sich vorgestellt, dass man von Geburt an beide bekäme und zu einem bestimmten Alter sich dann für eine entscheiden müsse. Sie vermutet, dass sie dann „vielleicht auch die deutsche behalten“ hätte. Wie die meisten befragten „InderInnen“ der zweiten Generation will sich Savita nicht zwischen Deutschland und Indien entscheiden müssen. Beide Länder prägen die hybriden Identitäten der zweiten Generation und dies würden sie gerne in einer doppelten Staatsbürgerschaft ausgedrückt sehen.
Die Änderung des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts im Jahr 2000 hat Savitas
Alternativlösung für in Deutschland geborene Kinder umgesetzt. Für ihre Kinder
war die Gesetzesänderung allerdings nicht hilfreich, da ihr Ehemann deutscher
Staatsbürger ist. Sie „wurde informiert, dass im Gesetz steht, dass nur, wenn
zwei Ausländer Eltern sind, dann die doppelte Staatsbürgerschaft bis 21 Jahre
möglich ist“. Sie hat sich daher gar nicht weiter um die indische
Staatsbürgerschaft für ihre Kinder bemüht.
Die polarisierende Diskussion um den „Doppelpass“ im Herbst 1998, die dieser
Gesetzesänderung vorangegangen war, hat Savita allerdings, wie sie 2004 sagt,
„erschüttert“ und „betroffen“. Als das Erschütternde bezeichnet sie „das
Vorort-Erleben von Ausländersein“. Sie habe an einem der Informationsstände
gegen den „Doppelpass“ eine alte Frau angesprochen und die habe ihr geantwortet
„Mit Ihnen muss ich mich nicht darüber unterhalten“. Savita sagt, dass sie
„vorher nie so Respektlosigkeit und Hass erlebt“ habe und das „von Leuten, die
so aussehen wie meine Nachbarn“. Das habe ihr Angst gemacht, “die Bereitschaft
mitzumachen“ fand sie erschreckend. Sie sagt, die Sachlichkeit sei verloren
gegangen, und sie habe sich „bestätigt gefühlt in der Entscheidung Inderin zu
bleiben“. Sie argumentiert: „was nutzt der deutsche Pass, wenn ich aufgrund von
meinem Aussehen immer als Ausländerin gesehen werde“.
Auch viele andere, etwa Mary, Danny, Ninder und auch der Sohn der Agarwals sagen in den Interviews immer wieder, dass ihre Hautfarbe sie immer als „Nicht-Deutsche“ definieren werde, egal welche Staatsbürgerschaft sie haben. Der 1981 geborene Auszubildende Sebastian formuliert 2004 ähnliches. Auf meine Frage zu seiner nationalen Zugehörigkeit sagt er: „Ich bin Inder“, und bestätigt das auf Nachfrage ohne jegliche Einschränkungen noch einmal. Dann frage ich, ob er sich so gar nicht als „Deutscher“ fühle und er antwortet:
„Das würde ich nicht sagen. Ich bin hier geboren, lebe in Deutschland, bin hier zur Schule gegangen, habe deutsche Freunde, wie gesagt, meine Zukunft liegt wahrscheinlich auch in Deutschland. Also daher, will ich nicht sagen, ich fühle mich nicht als Deutscher, aber wie gesagt, dadurch, dass ich auch indisch aufgewachsen bin, habe ich klar einen großen Bezug zu Indien. Ich habe einen großen Bezug zu Deutschland, weil ich hier geboren bin, weil ich hier aufgewachsen bin, zur Schule gegangen bin und eben halt in beiden Kulturen aufgewachsen bin. Gleichzeitig die Nähe zu Indien, sowohl die Nähe zu Indien als auch die Nähe zu Deutschland ist vorhanden.“
Bis zu diesem Punkt im Interview bin ich verwundert, dass Sebastian sich dann als Inder und nichts anderes fühlt, wo er doch einen starken Bezug zu Deutschland hat. Das wird aber verständlicher als er unmittelbar fortfährt: „Klar, dass man sich schon ein bisschen mehr als Inder fühlt, ist klar. Weil, wenn man auf der Straße geht, da bleibst du dunkelhäutig. Im Endeffekt diese Schiene, will ich mal sagen, weil generell akzeptiert wird man nicht, würde ich mal sagen. Also, auf den ersten Blick sagt er, ‚Ja, ein Ausländer.’“ Seine Hautfarbe macht Sebastian zum „Inder“, wobei seine Sozialisation ihn eigentlich „deutsch“ gemacht hat. Diese Erfahrungen von Ausgrenzungen prägen das Verhältnis zu Deutschland für viele „InderInnen“ der zweiten Generation. So hatte Jose sich 1998 gegen den Wehrdienst nicht nur deshalb ausgesprochen, weil er ein Jahr verlieren würde. Er hatte auch gesagt, dass „ich mich dem Staat nicht verpflichtet fühle, da Staat und Gesellschaft mich nicht akzeptieren“.
Für den politisch aktiven Mahesh ist es 2004 nicht mehr die „Entscheidung zwischen Mutter und Vater“, die ihn von einem Einbürgerungsantrag zurückhalte. Der Grund, warum er die indische Staatsbürgerschaft nicht aufgeben wolle, komme nun „durch die Auseinandersetzung mit Rassismus und struktureller Diskriminierung“ in Deutschland. Er wolle einen „Zufluchtsort haben, wenn in Deutschland Diskriminierung herrscht“. Es gehe ihm dabei „nicht so sehr um gefühlte Diskriminierung“, sondern jene, die er in den Strukturen sehe, im System spüre, den „Rassismus in Medien und Politik“, insbesondere in Fragen der Asylpolitik. Er sei zwar „nicht direkt betroffen“, aber all dies präge „ein Bild von Vorurteilen und Ressentiments“ und dies „hat auch Auswirkungen darauf, wie ich gesehen werde“. Er habe das Gefühl, dass „Ausländer“ aus dem „Bürgerbegriff ausgesondert werden, zur Randgruppe gemacht werden“. Wie Savita hatte er viel erwartet vom Gesetzesentwurf zur doppelten Staatsbürgerschaft, er „war kurz davor“, einen Einbürgerungsantrag zu stellen, wollte nur noch abwarten bis die Gesetzesänderung durch ist. Als sie aber nicht durchkam, war er „sehr deprimiert ... durch den offenen Rassismus“. Jetzt sei schon „alleine aus Protesthaltung diese [die indische, ug] Staatsbürgerschaft zu behalten sehr attraktiv“.
Den 1971 geborenen Juristen Horst, dessen Mutter aus Kerala und dessen Vater aus Deutschland stammt, schätze ich nach den Interviews als politisch eher konservativ ein, auch in Bezug auf Zuwanderungspolitik. Aber auch für ihn waren „Ausländerfeindlichkeit“, Rassismus und Diskriminierung wesentlich in seiner Auseinandersetzung mit der Zugehörigkeit zu Deutschland und Indien. 1998 erzählte er mir, dass er sich 1992 nach „Mölln, Rostock, Solingen“ erkundigt habe, ob er auch die indische Staatsbürgerschaft bekommen könne. Er habe das zwar nicht intensiv verfolgt, aber er merkte dass Deutschland „nicht so sicher wie man glaubt“ sei. Bis zu diesem Zeitpunkt habe er, der eine in meinen Augen sehr dunkle Hautfarbe hat, sich „gar nicht als Inder gefühlt“. Der Bezug zu Indien war fast nicht vorhanden: „Bis 16 Jahre habe ich nicht bewusst wahrgenommen, dass ich indische Verwandte habe.“ Er war „früher einfach deutsch“. Im Interview 2004 zeigt sich, dass für Horst diese Entwicklung wesentlich weiter gegangen ist. Er arbeitet mittlerweile in Sachsen, werde dort „als Ausländer wahrgenommen“, fühle sich allerdings als „West-Deutscher“. Denn im Westen sehe er andere wie sich, was „im Osten“ gar nicht der Fall wäre. Er erzählt, dass er in Sachsen auch offene Diskriminierungen erlebe. Er werde „ab und zu dumm angemacht“, es wurde „gegen die Straßenbahnscheibe geschlagen“, er gehe – wie andere „normale Bürger auch“ – nicht in bestimmte Stadtteile. Dabei „versuche ich mich nicht als Ausländer zu fühlen, sonst gebe ich ihnen recht“. Horst sagt über sich, „das Indische ist gewachsen“. Als Gründe warum er sich mehr mit Indien beschäftige, führt er an, dass er mehr Zeit habe, er in Indien war und es ihm dort gut gefallen habe, er andere „InderInnen“ der zweiten Generation in Deutschland getroffen habe und in Zeiten der Globalisierung eine Erweiterung des eigenen Horizontes angebracht sei. Die erlebten Diskriminierungen und Rassismus machen ihn nach eigenen Worten nicht zum „Inder“ sondern zum „West-Deutschen“, denn dort gebe es andere wie ihn.
Während Sita im Operationssaal ihr Schlüsselerlebnis hatte, das sie zu Deutschland hingeführt hat, hatte Horst seines 1992 mit den Anschlägen auf „Ausländer“ und nach dem Umzug nach Sachsen. Für Savita und Mahesh war die Debatte um den „Doppelpass“ ein Schlüsselerlebnis. Die Erfahrungen und Debatten in Deutschland bestimmen das Gefühl der Zugehörigkeit zu Deutschland und die Bedeutung der indischen Staatsbürgerschaft für „InderInnen“ der zweiten Generation. Sie machen sie zu Anderen Deutschen, die sich in ihrem „Deutschsein“ unterschiedlich stark akzeptiert fühlen. Unterschiedlich ist auch der Bezug zu Indien, den sie verspüren. So sagt der 1973 geborene Sohn der Agarwals im Interview 2003, die „indische Herkunft ist nur fremdländisch“. Die indische Herkunft seines Vaters präge ihn, er habe einen engeren Bezug zu Indien als andere „Deutsche“, aber er fühle sich nicht als „Inder“ in irgendeiner Form sondern als „fremder Deutscher“, weil ihn die „Deutschen“ so sehen. Ich sehe das für mich ähnlich. Unsere Selbstbeschreibungen sind sehr Nahe an Mecherils Definition Anderer Deutscher. Es geht nicht um kulturelle Essenzen sondern um Fremdzuschreibungen.
aus: Ausgrenzung
und Zugehörigkeit - Zur Rolle von Staatsbürgerschaft und Einbürgerung
erschienen in: Christiane Brosius und Urmila Goel (2006, Hrsg.),
masala.de - Menschen aus Südasien in
Deutschland, Heidelberg:
Draupadi-Verlag, 123-160.
Siehe auch:
© Urmila Goel, urmila.de / Desis in Deutschland/ Recht / Ausgrenzung 2006