Desis in Deutschland / Ausgrenzung und Zugehörigkeit
Kommen wir zurück zur Definition Anderer Deutscher von Mecheril (1997: 177). Sie umfasst „Menschen,... [die] die Erfahrung gemacht haben und machen ... nicht dem fiktiven Idealtyp des oder der „Standard-Deutschen“ zu entsprechen“. Nach Jacobsen könnte dies sein, weil sie „rassisch“, kulturell oder rechtlich „anders“ sind. Mecheril engt dies aber auf den „rassischen“ Aspekt ein, da er die Abweichung „aufgrund sozialer oder physiognomischer Merkmale“ hervorhebt. Dies ist eine Erfahrung, die sowohl die befragten „InderInnen“ der zweiten Generation wie auch Herr Agarwal gemacht haben. Herrn Agarwal würde Mecheril aber nicht als Anderen Deutschen bezeichnen, da jene „wesentliche Teile ihrer Sozialisation, in Deutschland absolviert haben“, Herr Agarwal aber im wesentlichen in Indien sozialisiert wurde. Andere Deutsche bezieht sich auf Menschen, bei denen „ihre Eltern oder nur ein Elternteil oder ihre Vorfahren als aus einem anderen Kulturkreis stammend betrachtet werden“. Diese Betrachtung unterstellt in der Regel, dass Andere Deutsche einen engen Bezug zu einem anderen Land und dessen Kultur haben. Die „rassische“ Abgrenzung geht daher mit einer unterstellten kulturellen Differenz und in Deutschland, aufgrund der bisherigen Regelung von Staatsbürgerschaft, in der Regel auch mit einer rechtlichen einher. Die Anderen Deutschen werden als „AusländerInnen“ gesehen, die sich nicht nur im Aussehen sondern auch kulturell unterscheiden. Das erfahren auch Andere Deutsche wie Horst, die sich immer als „Deutsche“ gefühlt haben und wenig über „Indisches“ wissen, oder Adoptierte wie Ashvin, die in einem völlig „deutschen“ Umfeld aufgewachsen sind und sich erst einen Zugang zu Indien erarbeiten müssen. Im Gegensatz zu Herrn Agarwal fehlt ihnen die eigene Erinnerung an Indien, die ihnen das „als-Inder-betrachtet-Werden“ erleichtert.
Kulturell fühlen sich die meisten Befragten Deutschland durchaus zugehörig. Sie
sind vertraut mit „deutschen“ Werten und Lebensstilen. In weiten Teilen sind es
auch ihre eigenen. So sagt Anand etwa von sich, „das indische ‚wait some more
time’ ist nicht meine Sache“ und bezeichnet das als „deutsche Angewohnheit“.
Viele fühlen sich zwar auch „indischen“ Einstellungen und Werten verbunden, dies
führt in der Regel aber nicht zu kultureller Ausgrenzung durch die
Mehrheitsgesellschaft, da sie, wie Ballard (1994: 31) es bezeichnet, „skilled
cultural navigators“ sind. Sowohl Herr Agarwal wie auch die „InderInnen“ der
zweiten Generation sind nach meiner Beobachtung in der Lage im „deutschen“
Umfeld den dort geltenden kulturellen Normen zu genügen.
Dazu ein Beispiel aus einem meiner Interviews im Sommer 2004: Ich habe mich mit
der 25jährigen Studentin der Sozialwissenschaften Sarita und ihrer Familie beim
Mittagessen unterhalten. Auf einmal ist ihr älterer Bruder Vinod ganz
überrascht, sie hat ihn mit seinem Vornamen statt mit der Bezeichnung „Dada“ für
den älteren Bruder angesprochen. Im Interview danach führt sie aus:
„Normalerweise sag ich das dann, wenn man in einem Umfeld ist, wo mehrere andere
Personen sind, die nicht wirklich zum familiären Kontext Zugang haben. Dann ist
man schon geneigt zu sagen: ‚Vinod, kannst du mal bitte …’, weil sonst denken
die, ’Warum nennt die denn ihren Bruder ‚Dada’, der heißt doch anders!?’. Um zu
vermeiden, dass dann irgendwelche Fragen kommen, sag ich dann direkt ‚Vinod’,
und gut ist es.“ Sarita wendet also je nach Kontext den kulturspezifischen Code
an. In diesem Fall hat sie ohne zu bemerken, den falschen genommen. Der Grund
dafür mag darin liegen, dass ich beim Essen dabei war und von ihr unbewusst als
„fremd“ wahrgenommen wurde. Ihr Vater wollte mir auch die ganze Zeit Besteck
aufdrängen, da er mich wohl als „Deutsche“ sah, die nicht mit Fingern essen
kann.
Sarita sowie die meisten anderen der zweiten Generation und auch Herr
Agarwal passen sich in der Öffentlichkeit an die dort geltenden Normen an und
setzten sich mit „indischen“ kulturellen Normen meist nur in geschützten Räumen,
wie etwa der Familie oder in Vereinen, bei Seminaren, in Internetforen, etc.
auseinander. Dort werden dann von den Anderen Deutschen auch Konflikte mit den
Werten ihrer Eltern, zum Beispiel in Bezug auf Beziehungen und Familie
diskutiert.
Kulturelles Anderssein war in den Interviews kein explizites Thema, meine
Eindrücke zu diesem Themenkomplex sind das Ergebnis meiner langjährigen
teilnehmenden Beobachtung in ganz unterschiedlichen Kontexten. Es wird den
Anderen Deutschen und Herrn Agarwal aufgrund ihres Aussehens zwar durchaus
unterstellt und sie alle müssen sich immer wieder zu den unterstellten
Differenzen äußern, aber das ist nicht die wesentliche Ausgrenzung, die sie
erleben. Im Gegenteil: da sie sich als kulturell zugehörig empfinden, schmerzt
sie die Ausgrenzung auf „rassischer“ und rechtlicher Ebene viel mehr. Immer
wieder als anders gesehen zu werden, beeinflusst auch ihr Selbstbild. Für Herrn
Agarwal ist der unterstellte Bezug zu Indien nicht so problematisch, da er ihn
durch seine Sozialisation in Indien selber verspürt. Ärgerlich ist für ihn
allerdings, dass seine Verbundenheit zu Deutschland immer wieder in Frage
gestellt wird. Für die „InderInnen“ der zweiten Generation ist aber sowohl der
unterstellte Bezug zu Indien als auch die abgesprochene Zugehörigkeit zu den
„Deutschen“ problematisch, da sich das so nicht mit ihrem Empfinden deckt. Da
sie auch durch kulturelle Anpassung und Einbürgerung nicht wirklich „Deutsche“
werden können, versuchen viele zumindest die Fremddefinition des „Indischseins“
zu erfüllen, fühlen sich als „Inder“ und wollen „Indisches“ pflegen.
Zu einem
Problem der „InderInnen“ der zweiten Generation wird, dass ihre nach Werbner
(1997) organisch gewachsenen hybriden Identitäten, die „Deutsches“ und
„Indisches“ zu etwas Neuem verbinden, von der Mehrheitsgesellschaft nicht
akzeptiert werden. Gerade in Fragen der Staatsbürgerschaft sollen sie sich für
eine eindeutige Zugehörigkeit und gegen die andere entscheiden. Dies ist aber
nicht nur für den Migranten Herrn Agarwal, sondern auch für die Anderen
Deutschen nicht so einfach. Sie merken, dass ihre kulturelle „Anpassung“ nicht
honoriert wird und „rassische“ Anpassung unmöglich ist. Daher tun sich viele
schwer, die symbolische Verbindung zu Indien, die für das Andere stehen soll, zu
kappen, indem sie die indische Staatsbürgerschaft aufgeben. Staatsbürgerschaft
und Einbürgerung werden gerade auch deshalb bedeutend für das Gefühl von
Zugehörigkeit, weil durch die rechtliche Abgrenzung Ausgrenzung nicht nur
erlebbar sondern auch zuordenbar gemacht wird, und eindeutige Entscheidungen zu
treffen sind. Dabei liegen den gesetzlichen Regelungen sowohl Vorstellungen zu
„rassischen“ und kulturellen Differenzen sowie eine Ablehnung hybrider
Identitäten zugrunde. Staatsbürgerschaften und Einbürgerung erhalten so für die
Mehrheitsgesellschaft und die „ausländischen“ Staatsbürger eine symbolische
Bedeutung. Eine vollzogene Einbürgerung löst diese dann wieder auf, da beide
Seiten feststellen, dass insbesondere die „rassische“ Differenz weiter besteht.
Ein restriktives Staatsbürgerschafts- und Einbürgerungsrecht wirkt damit
desintegrierend, ein liberales aber nur bedingt integrierend. Die
Auseinandersetzung mit rechtlicher Ausgrenzung unterstützt die Suche nach einer
Heimat in der Ferne und das Gefühl Teil einer Diaspora zu sein. Fehlt die
rechtliche Abgrenzung, dann haben „rassische“ und unterstellte beziehungsweise
tatsächliche kulturelle Differenz ähnliche Wirkungen. Durch die rechtliche
Einbindung der Anderen Deutschen ist aber zumindest die rechtliche Basis für
ihre Teilhabe an der gesellschaftlichen Gestaltung gelegt.
aus:
Ausgrenzung
und Zugehörigkeit - Zur Rolle von Staatsbürgerschaft und Einbürgerung
erschienen in: Christiane Brosius und Urmila Goel (2006, Hrsg.),
masala.de - Menschen aus Südasien in
Deutschland, Heidelberg:
Draupadi-Verlag, 123-160.
Siehe auch: Rassismuserfahrungen